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Analytische Strenge und Neigung zum Mythos

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Neue Erkenntnisse über den Schönberg-Verehrer René Leibowitz
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Sabine Meine: Ein Zwölftöner in Paris. Studien zu Biographie und Wirkung von René Leibowitz (1913–1972), 287 Seiten,Wißner-Verlag, Augsburg 2000

Sabine Meine: Ein Zwölftöner in Paris. Studien zu Biographie und Wirkung von René Leibowitz (1913–1972), 287 Seiten,Wißner-Verlag, Augsburg 2000Im Winter 1947 fuhr René Leibowitz in die Vereinigten Staaten und besuchte dort sein „Idol“. Arnold Schönberg war über den engagierten Herrn aus Paris, der ihm ein Musikfestival widmete, Schriften von ihm übersetzte und seine Werke in Darmstadt dirigierte, verwundert und auch anfangs erfreut. Leibowitz seinerseits erhoffte sich vom direkten Kontakt eine Legitimierung, die ihm in Europa vor seinen Kollegen und Schülern Respekt und Handlungsspielraum verschaffen sollte.

Indem sich der heute fast vergessene Musikschriftsteller, Komponist und Dirigent René Leibowitz für die Musik Schönbergs und seiner Schule im Paris der Nachkriegszeit engagierte, hätte er sich eine persönliche Nische gesucht, in der er auf Dauer zwar zum Scheitern verurteilt, für kurze Zeit jedoch produktiv und erfolgreich gewesen sei. Sabine Meine zielt mit dieser These auf die Ambivalenz musikalischer Wirkungsgeschichte und im konkreten Fall auf eine Vermittlerfigur, deren Ausstrahlung schillernd, deren Œuvre jedoch nur ein epigonales war.
Ihr Ausgangspunkt ist zunächst die wenige Sachliteratur zur Person. Die darin verbreitete Meinung, Leibowitz wäre seinerzeit nur „zu dogmatisch“ gewesen, ist der Autorin jedoch zu mechanisch, zu einseitig werkbezogen gedacht. Um Leibowitz’ musikhistorischen Part bezüglich Schönbergs zu rekonstruieren und neu zu bewerten, bezieht sie deshalb disziplinübergreifend auch Leibowitz’ Schriften, deren kulturhistorischen Kontext, das Paris der 30er- und 40er-Jahre, sowie Biografie und Persönlichkeitsbild mit in ihre Forschungen ein.
René Leibowitz, geboren 1913 in Warschau, Enkel eines jüdisch-orthodoxen Rabbiners aus dem heutigen Lettland, umgab sich demnach gern mit Legenden. Er verschwieg, dass er musikalisch ein Autodidakt und aus innerfamiliären Zwängen nach Frankreich geraten war. Vielmehr nannte er sich einen Schüler Anton von Weberns und später den einzigen Vertreter der „Schönberg’schen Richtung“ in ganz Paris. Letzteres traf zu – für die Zeit vor und kurz nach dem Krieg. Sabine Meine hat im Nachlass der Paul- Sacher-Stiftung in Basel bislang verschlossene Dokumente studiert und weist nach, dass Leibowitz’ Entscheidung und Engagement für die Zwölfton-Musik eine Frage seiner Identität, also die Konsequenz und Konstante eines persönlichen Lebenswegs war. In den 30er/40er-Jahren, so erinnert die Hannoveraner Romanistin und Musikologin, provozierte deutsche Musik in Paris. Wer für sie eintrat, geriet zwangsläufig ins Licht der Öffentlichkeit. Leibowitz suchte allerdings weniger die Aufmerksamkeit der reichlich desinteressierten Pariser Musikwelt. Er sah sich in philoso-phisch-literarischen Kreisen zu Hause und brillierte mit Theorien einer neuen Ordnung in der Musik zuerst in surrealistischen Zirkeln, später im Kontext der Existenzialismus-Debatten um Sartre, Bataille und Levi-Strauss. Als Laienphilosoph verklärte er die kompositorische Technik zum Gesellschaftsentwurf. Zwölfton-Musik war für ihn das Ziel einer Entwicklung, die mit Bach begann und in Schönberg ihren Gipfel erreicht.

Solcherlei Fortschrittsdenken und Absolutheitsanspruch zieht sich auch durch Leibowitz’ Schriften, die Anfang der 40er- Jahre in Südfrankreich, auf der Flucht vor den deutschen Besatzern entstanden, und die er nach dem Krieg in Paris sehr schnell zu publizieren verstand. 1944, im Jahr der Befreiung, herrschte hier Bedarf an Utopie und Innovation. Leibowitz schrieb in Sartres Les Temps Modernes, er verfügte über Noten, Aufführungspraxis und eigene Kompositionen und avan-cierte unversehens zur zentralen Vermittlergestalt. In den Jahren des Aufbruchs, gegenüber dem Nachwuchs und der nicht-musikalischen Avantgarde vermochte er dies auch zu leis-ten. Von Schönberg persönlich legitimiert, dominierte Leibowitz zunächst auch die Ferienkurse in Darmstadt. In den Jahrgängen 1948/49 plädierte er für die Dodekaphonie als absolutes Maß einer neuen Musik. Zeitgleich jedoch drängte sein Schüler Pierre Boulez bereits zum Bruch mit Konventionen jeglicher Art. Leibowitz, der sich auf Traditionen berief, unterlag in diesem nicht ganz folgenlosen Disput. Da er auf Schönberg als einer Art Lebens-Thema beharrte, verlor er seine Schlüsselfunktion und wurde von einer neuen Avantgarde überholt und verdrängt.

Was im letzten Drittel seines Lebens geschah, ist summarisch vermerkt. Sabine Meine hat sich in ihrer beim Augsburger Wißner-Verlag im vergangenen Herbst publizierten Dissertation auf die Schönberg-Vermittlung Mitte der 40er-Jahre konzentriert. Auch später, so immerhin skizziert die Autorin, blieb Leibowitz seiner Vorbildgestalt weithin treu. Dies äußerte sich außer im publizistischen auch im kompositorischen Werk, das fünf dodekaphonische Opern, Lieder und zahlreiche Kammer- und Klaviermusik aufweist und kaum Beachtung fand. Noch ein Mal allerdings, zehn Jahre bevor er 1972 verstarb, schrieb René Leibowitz ein kleines Kapitel Geschichte. In diesem Falle als Dirigent am Pult des Royal Philharmonic Orchestra mit einer sensationellen Platten-Einspielung von Beethovens neun Sinfonien. Auch hier schlug zu Buche, worin Leibowitz unübertroffen war: in genauester Kenntnis der Werke, in analytischer Strenge und in seiner Neigung zum Mythos, zum Visionären.

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