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Auch Selbst-Bildung ist kulturelle Bildung

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Umfassendes Handbuch zur kulturellen Bildung bei kopaed erschienen
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Etwas weniger wäre vielleicht mehr gewesen: Mehr Orientierung, (noch) mehr Struktur. Über tausend Seiten „Kulturelle Bildung“ in einem Handbuch, das von Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand und Wolfgang Zacharias herausgegeben wurde: Das überfordert den Leser und kann doch dem Anspruch auf Vollständigkeit eigentlich nicht gerecht werden. Zumal die Gefahr besteht – wie bei jedem Kompendium dieser Art -, dass sich schon bei Erscheinen ein Aktualitätsverlust nicht vermeiden lässt.

Wenn man diese „Generalkritik“ einmal hintan schiebt, so birgt dieses „Handbuch Kulturelle Bildung“ durchaus viel Verdienstvolles. „Theoretische Grundlagen“ heißt der erste Teil, „Praxisfelder“ der zweite, der die einzelnen Sparten sowie unter anderem die Themenfelder „Adressatengruppen“, „Aus- und Fortbildung und Professionalisierung“, „Berufsfelder“ und „Evaluation“ beinhaltet. Eine Rezension über ein Buch mit über tausend Seiten geballten Inhalt kann nur rudimentär widergeben, worum es im Einzelnen geht. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis, den der Kopaed-Verlag auf seiner Webseite ermöglicht, sei all denen empfohlen, die sich für die Publikation interessieren.

„Stichproben“

Vanessa-Isabelle Reinwand liefert in ihrem Beitrag einen wertvollen Vorschlag zur Abgrenzung der Begrifflichkeiten, der Anregungen zur weiteren Begriffsdiskussion geben soll: „Bildung und Erziehung“, Künstlerische Bildung“ und „Ästhetische Bildung“, „Kulturelle Bildung“ und „Kulturvermittlung“: Oftmals erleben wir hier eine unklare Vermischung, der die Autorin auf die Spur zu kommen versucht.
Über die „Kulturelle Globalisierung“ schreibt Olaf Zimmermann. Er beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Liberalisierung auf den Kultur- und Bildungssektor und beschreibt den Verlauf der GATS-Verhandlungen ebenso wie die Debatten in der UNESCO. Angesichts der aktuellen Freihandels-Diskussionen hat dieser Beitrag einen, wenn auch schon wieder „historischen“ großen Wert. Gerade der Kulturellen Bildung, so Zimmermann, komme eine herausragende Bedeutung zu, wenn es darum geht, im Rahmen der Globalisierung das Bewusstsein für den Wert der Kreativität zu stärken.

Wiederum eine Begriffsabgrenzung liefert Birgit Mandel, die über „Kulturvermittlung, Kulturmanagement und Audience Development als Strategien für Kulturelle Bildung“ und deren Ziele, Aufgaben und zukünftige Herausforderungen schreibt. Informativ und klar erläutert sie den Zusammenhang zwischen Vermittlung, Management und Kultureller Bildung. Gemeinsames Ziel muss vor allem sein, der „mangelnden Nachfrage“ zu begegnen und neue Zielgruppen zu erschließen.

Einen spannenden Beitrag über die Kritik an jedweder Kommerzialisierung der Kultur liefert Kaspar Maase. Er betrachtet die Diskussion der „gegnerischen Lager“ historisch und aktuell. Die nicht zuletzt durch Friedrich Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung“ unterstützte Kritik an jedweder Ökonomisierung hat in Deutschland lange Tradition. Erst in den letzten Jahren hat die Tabuisierung des „Kulturmarktes“ Risse bekommen.

Über einen (nötigen) Wandel in den Beziehungen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft schreibt auch Norbert Sievers, der das Modell der public private partnership (ppp) aufführt. Einen Perspektivwechsel sieht er, der den Staat nicht mehr „nur als Hoheits- und Interventionsstaat klassischer Prägung“ versteht, sondern eher „als befähigenden und ermöglichenden Staat“. Die geforderte „trisektorale Kooperationsstruktur“ lasse sich gerade im Bereich der außerschulischen kinder- und jugendkulturellen Bildung nachvollziehen, so Sievers. Allerdings erkennt er auch, dass diese Kooperation zwischen den Sektoren Markt, Zivilgesellschaft und Staat zu einer „problematischen Grenzverwischung“ führen kann, wenn alle Akteure „in einen Topf“ geworfen werden.

Hildegard Bockhorst gibt einen klaren und sehr informativen Überblick über Rahmenbedingungen von Jugend-, Kultur- und Bildungspolitik. Sie erläutert die Zuständigkeiten der Bundes-, Landes- und der kommunalen Ebene, beschreibt verschiedene Förderinstrumente und berichtet über bildungs- und kulturpolitische Schwerpunkte der aktuellen Bundespolitik.

Die Sparte Musik und Klang

Nach diesen stichprobenartigen Einblicken in den ersten Teil des Buches sei hier nun noch der Blick in das Kapitel „Musik/Klang“ geworfen. Hier haben Christian Höppner, Gerald Mertens, Ortwin Nimczik, Matthias Pannes, Stephan Schmitz und Susanne Binas-Preisendörfer geschrieben. Während Christian Höppner als Generalsekretär des Deutschen Musikrat eine Generalübersicht über das Thema „Musikalische Bildung“ liefert, beschreibt Gerald Mertens das Thema aus Sicht der Konzerthäuser und Orchester. Ortwin Nimczik beleuchtet den formalen Bereich (Schule) der musikalischen Bildung, Matthias Pannes das Feld der öffentlichen Musikschulen. Stephan Schmitz hat sich dem Thema „Laienmusik“ gewidmet, Susanne Binas-Preisendörfer schreibt über „Praktiken musikalischer und kultureller Sozialisation im Zeitalter medialer Multioptionalität“.

Die Eröffnung „jeder erdenklichen Form des menschlichen Selbstausdrucks durch Klänge“, das Erlebbar-Machen von Klangerfahrungen und deren Verknüpfung mit den jeweils individuellen Lernerfahrungen“ stehen, so Höppner, im Mittelpunkt der musikalischen Bildung. Mit dieser Definition eröffnet er seinen Beitrag, in dem er informativ und gleichzeitig konzentriert die historische Dimension der musikalischen Bildung, die aktuelle Situation und die Zukunftsperspektiven erläutert. Die erzieherische und stabilisierende Funktion der Musik haben bereits Plato und Aristoteles gewürdigt. Musikalische Bildung spielt im Alten wie im Neuen Testament eine Rolle und wurde anfangs vorwiegend im Rahmen der Kirche betrieben, bis sie auch eine wesentliche weltliche Bedeutung erhielt. Nach einem kurzen Verweis auf den Missbrauch der musikalischen Bildung im dritten Reich rekurriert Höppner auf den Mentor der modernen Musikpädagogik, Leo Kestenberg. In der aktuellen Diskussion geht es vor allem um die Globalisierung mit ihren unbegrenzten Zugangsmöglichkeiten und der zunehmenden Standardisierung von Inhalten, um die Verdichtung des Lebensalltags, die zunehmende Ökonomisierung, die die musikalische Bildung in eine „regelrechte Verwertungsfalle“ treibe, und die Digitalisierung, die mit neuen Vermittlungswegen, einer Individualisierung des Musikkonsums, aber auch mit dem Rückgang des aktiven Musizierens einhergehe. Wichtig, so Höppner, sei in Zukunft ein „Verständigungs- und Vernetzungsprozess aller Akteure im Bildungs- und Kulturbereich“. Die UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt schlägt er als Handlungsgrundlage für diese Vernetzung vor. „Kontinuität und Qualität in der musikalischen Bildung“ sind wesentliche Forderungen. Höppner relativiert damit gleichzeitig die Projektarbeit und „Eventisierung musikalischer Bildung“ – wie nach ihm auch Ortwin Nimczik und Mattias Pannes, die gleichermaßen auf die Bedeutung einer kontinuierlichen musikalischen Bildung verweisen.

Konzerthäuser und Orchester, so Gerald Mertens, sind in erster Linie Kultur- und keine Bildungsinstitutionen. Kulturelle Bildung zählt nicht zu ihren Kernaufgaben. Allerdings hat sich dies in den letzten Jahren deutlich verändert. „Audience development“, „Education“, „Musikvermittlung“, sind die – inzwischen gängigen – Begriffe, die davon Zeugnis geben. Finanz- und Legitimationsdruck, die Konkurrenzsituation der Institutionen untereinander sowie der Besucherrückgang vorwiegend in der Altersgruppe der Jungen haben die Häuser zur Erweiterung ihres Portfolios bewegt. Dabei wurden sowohl neue Konzertformate als auch Projekt- und Workshopformate zum Mitmachen sowie „Outreach-Aktivitäten“, also kleinformative Aktivitäten vor Ort (Schule, Kindergarten u.a.) entwickelt. „Die Bedeutung der Kulturellen Bildung durch Orchester und Konzerthäuser wird noch weiter zunehmen“, so Mertens‘ Prognose. Allerdings könne der Rückgang der musikalischen Breitenbildung durch die fortschreitende Einschränkung des Musikunterrichts an den allgemein bildenden Schulen dadurch nicht aufgefangen werden.

Zahlreiche Details und Fakten vermittelt Ortwin Nimczik über den Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen. Jedem, der sich über Bildungspläne, Strukturen, Stundentafeln informieren will, sei dieses Kapitel wärmstens ans Herz gelegt. Zentrale Forderung: Die Kontinuität des Musikunterrichts an den Schulen, die der einzige Ort sind, an dem alle Kinder mit Musik in Berührung kommen, muss gewährt, der Fachlehrermangel bekämpft werden. Nimczik geht außerdem auf die zunehmende Bedeutung der musikalischen Praxis in den Schulen sowie – als besondere Ausformung desselben – auf das Klassenmusizieren ein.
„Eine Schule, zu der man kommen will, weil man darf und nicht muss“: Matthias Pannes belegt in seinem Beitrag die Rolle der öffentlichen Musikschulen als wichtiger und konstitutiver Bestandteil jeder kommunalen Bildungslandschaft. Belegt ist die zentrale Bedeutung der Musikschulen im Positionspapier der kommunalen Spitzenverbände (2009/10) sowie im KGSt-Gutachten aus dem Jahr 2012. Pannes hebt das „Prinzip der Zugänglichkeit“ hervor und betont die Bedeutung des Ensembleunterrichts an den kommunalen Musikschulen, aber auch die musikpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderung sowie mit Menschen aller Altersstufen. Zunehmend entwickelt sich die Musikschule zum „Kompetenzzentrum musikalischer Bildung“ – als selbständige Einrichtung ebenso wie als Kooperationspartner für diverse Institutionen, vor allem Schule und Kindergarten. Wichtige Forderung von Pannes: der „Erhalt und die strukturelle Einbeziehung von Freiräumen für Kinder und Jugendliche angesichts der Veränderungen von schulischen Rahmenbedingungen“.

Etwa fünf Millionen Aktive sind, so Stephan Schmitz, im Bereich der Laienmusik zu Hause, wobei es zwischen Profis und Laien durchaus Überschneidungen gibt. Schmitz erklärt in seinem Artikel vor allem die Verbandsstrukturen der Laienmusik im Allgemeinen und der Laienmusik, die sich dezidiert der musikalischen Bildung im Besonderen verschrieben haben.
Viele Fakten, die in den ersten fünf Beiträgen des Kapitels Musik/Klang dargelegt werden, empfiehlt das Thema eher denjenigen, die in anderen Bereichen zu Hause sind und sich hier einen Überblick verschaffen wollen. Dafür eignen sich die Texte hervorragend. Dem Profi der musikalischen Bildung kommt hier allzu vieles bekannt vor. Positiv ist auf jeden Fall zu bewerten, dass neben Fakten, Zustandsbeschreibungen und Perspektiv-Darstellungen auch zentrale kulturpolitische Forderungen geäußert werden.

Einen anderen – durchaus spannenden – Ansatz verfolgt Susanne Binas-Preisendörfer mit ihrem Beitrag über die Bedeutung der „Selbst-Bildung“ vor allem im Bereich der populären Musik. Das, was ein Großteil junger Menschen in Bezug auf Musik denke, fühle und tue, sei kein unmittelbarer Effekt institutioneller Disziplin (Musikunterricht in der Schule, Projekte musikalischer Bildung) mehr, vielmehr ein „Effekt von Mediengebrauch, Medienkonsum und medialer Kontrolle“. Mit dem Aufkommen populärer Kultur und Musik habe man sich von einem normativen universellen Kulturbegriff verabschiedet. Die Autorin bezieht sich auf den Begriff des „Prosumers“, in welchem sich – unterstützt durch die Möglichkeiten des Web 2.0 –die Grenze zwischen aktiven Musikern und Rezipienten auflöst. In diesem Zusammenhang spielt die „Selbst-Bildung“ junger Menschen in einem nicht-institutionellen Rahmen eine wesentliche Rolle. Binas-Preisendörfer empfiehlt, „kulturelle Bildung außerhalb und in der Schule als eine stärker sozialwissenschaftlich informierte Auseinandersetzung mit den (…) unterschiedlichen kulturellen Praktiken zu konzipieren“.

Hildegard Bockhorst/Vanessa-Isabelle Reinwand/Wolfgang Zacharias (Hrsg.): Handbuch Kulturelle Bildung. (Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Bd. 30), kopaed, München 2012, 1080 S., € 44,00, ISBN 978-3-86736-330-3

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