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Chet Baker: Als hätte ich Flügel. Verlorene Erinnerungen, mit einem Vorwort von Carol Baker, Hannibal Verlag, St. Andrä-Wördern 1998.Pünktlich zum zehnten Todestag des legendären Jazztrompeters, Sängers, Drogensüchtigen und Frauenhelden Chet Baker ist ein schmales Bändchen mit seinen verschollen geglaubten Erinnerungen erschienen. In 13 kurzen Kapiteln skizziert der 1988 im Alter von 58 Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene Musiker seine Kindheit in Oklahoma und Kalifornien, seine Zeit beim Militär und seine Anfänge als Musiker.
Chet Bakers hervorstechendste Eigenschaft als Musiker war, daß er seine Singstimme genauso verwenden konnte wie die „Stimme“ seiner Trompete, und genauso verwendet er seine Sprache: sparsam, präzise, lässig und lakonisch bis in die Spitzen. Er erinnert sich an platzende Wassermelonen auf einer Farm in Yale, wo er als Kind die Ferien verbrachte, genauso spielerisch wie an seine erste Traumfrau, sie hieß Gisela, ein blondes deutsches Fräulein, das er nach dem Krieg während seiner Militärzeit im besetzten Berlin kennenlernte. Frauen, die Chet Baker bis ins hohe Alter überall, wo er auftauchte, mit glühender Verehrung überschütteten – eine seiner letzten Freundinnen bezeichnete ihn gar als „griechischen Gott“ –, nehmen überhaupt viel Raum auf den wenigen Seiten dieser Memoiren ein, ohne daß eine von ihnen je schärfere Konturen annimmt.
Sie reihen sich aneinander wie funkelnde Steine an der Kette seines musikalischen Werdegangs. Mit dreizehn schenkte ihm sein Vater, der Amateurmusiker war, eine Posaune, die Chet, der für sein Alter klein war, aber nicht gut bedienen konnte, so wurde sie durch eine Trompete ersetzt. Er belegte einen Kurs in der Schule, tat sich aber von Anfang an schwer mit dem Notenlesen. Er verließ sich – wie in seiner ganzen späteren Karriere – auf sein Gehör.
1949 spielte er in seiner ersten Jazzband und machte Bekanntschaft mit Gras: „Ich fuhr völlig darauf ab, die nächsten acht Jahre rauchte ich Gras, bis ich dann auch anderes probierte und schließlich bei härteren Sachen landete.“ So kurz und trocken schildert er die Anfänge seiner Drogenkarriere, die seine Karriere als Trompeter immer vehementer beeinflussen sollte: Immer wieder landete er im Gefängnis, mußte aus Kalifornien, Italien, England und Frankreich abwechselnd flüchten, seine schwangere Frau über Nacht verlassen und konnte so nie kontinuierlich an seinem Fortkommen als Trompeter arbeiten.
Trotzdem lernte er anfänglich eine Menge von den Großen seiner Zeit: nämlich „die Sachen einfach zu halten und nicht zu viele Noten auf der Trompete zu spielen.“ In den 50er Jahren spielte er mit allen, die im Jazz Rang und Namen hatten: Dexter Gordon, Frank Morgan, Art Pepper, Bon Whitlock, um nur einige zu nennen, und natürlich mit „Bird“ Charlie Parker, der ihn als ganz jungen Mann aus einer Reihe von Mitbewerbern auswählte, drei Wochen mit ihm zu spielen. Der Rest ist Jazzgeschichte, und man kann seiner Witwe Carol Baker nur recht geben, wenn sie im Vorwort so treffend bemerkt: „Wenn ich mir das herrliche Wirrwarr aus Bildern und Eindrücken anschaue, kann ich nur staunen, wie genau sich der wahre Kern von Chets Leben darin widerspiegelt: permanentes Chaos, durchsetzt von reinem Genie.“ Im Jahr 1963 enden seine Aufzeichnungen. Wahre Anhänger müssen also sowieso wieder auf die wunderbare und informative Dokumentation „Let’s Get Lost“ zurückgreifen, in der Chet Baker oft wortwörtlich die gleichen Geschichten aus seinem Leben erzählt wie in „Als hätte ich Flügel“.