Christoph Sramek (Hg.): „die töne haben mich geblendet“. Festschrift zum 60. Geburtstag des Dresdner Komponisten Jörg Herchet, Kamprad, Altenburg 2003, 347 S., Abb., Notenbsp., € 39,00, ISBN 3-930550-28-8
Vorweg: die Bezeichnung „Festschrift“ täuscht. Die umfangreiche Folge von Briefen, Erinnerungen und Werkanalysen ist weit mehr als eine mit Anekdoten gewürzte Sammlung von Grußadressen.
Der erste Blick erinnert an ein Lehrbuch. Beim zweiten stutzt man, versetzt doch das Titelfoto die Leipziger Oper an den Rand einer Tagebauhalde. Passend zur Premiere von Jörg Herchets Oper ‚abraum’ wühlten die Bagger 1997 den Opernvorplatz auf. Heute präsentiert der Schnappschuss den Band mit dem Titel „die töne haben mich geblendet“.
Christoph Sramek ist mit dem Schaffen des Komponisten seit langem vertraut. Er hatte im Vorfeld bereits viel von seinen Autoren erwartet. Von der Komplexheit der Beiträge, die ihn erreichten, war der Musikwissenschaftler dann doch überrascht. Täuscht er sich im Rückblick vielleicht? Schließlich kennt er Jörg Herchet gut genug, um zu wissen, dass niemand bei der persönlichen Begegnung mit dem Komponisten ohne einen Anstoß zur inneren Bewegung davonkommt. Auch Herchets Schüler lassen dies deutlich werden, letztlich alle mit Dankbarkeit.
Die Erfahrungen von Kollegen, Schülern und Freunden mit dem Komponisten bündelt Sramek zu dem, wovon nach der Lektüre etwas als Phänomen Jörg Herchet im Raum bleibt: „(…) sein Bestreben, archetypische und zugleich erstaunlich aktuelle Kräfte zur musikalischen Entfaltung zu bringen. Er durchbricht damit persönliche und gesellschaftliche Konfliktzonen (…) und gelangt in geistige Dimensionen, die ihm Erkenntnisgewinn und Lebenshilfe bedeuten…“
In vielen der Beiträge wird Betroffenheit deutlich, eine positive, ja dankbare Betroffenheit über die freundlich-unbeirrbare Entschiedenheit und unprätentiöse Würde schon des jungen Künstlers.
„Was ich suche, ist das, was aus unmittelbarem Erleben hervorbricht und doch sich so weit von allem Konkreten ablöst, dass es sich aus der Abstraktion heraus wieder unmittelbar trifft. abstraktion ist ja nichts anderes als die Konzentration auf das Eigentliche, wesentliche…“, so Herchet in einem Brief an Antje Kaiser. In der Mitte des Bandes liegt auch seine inhaltliche Achse und gleichzeitig einer der entscheidenden Ausgangspunkte für die Entstehung der Festschrift: eine Sammlung persönlicher Briefe des Komponisten, geschrieben vom Winter 1986 bis zum April 1987. Antje Kaiser betreute als Dramaturgin unter anderem die Uraufführung von Herchets erster Oper „nachtwache“ (nach Nelly Sachs).
Für den Komponisten ist die Oper vor allem Musik, wobei er sich bewusst ist, „dass die musik nur ein teil des ganzen ist. und ich stelle mich in den dienst einer aufgabe, die über meine möglichkeiten hinausgeht…“ Für die Dramaturgin gehören die Begegnungen mit Jörg Herchet, die Teilnahme an der Entstehung von Konzept und Komposition nicht nur zu einer einmaligen Zeit intensiven Austauschs über Musik, Literatur und Philosophie: „Damals schlugen Wurzeln in mir, von denen ich bis heute in meiner Arbeit und ebenso als Mensch zehre.“ Die „nachtwache“ sieht Antje Kaiser als ein Werk von wirklicher Größe, als Herausforderung und gleichzeitig als überdauerndes Geschenk. Jörg Herchet arbeitete in den 70-ern bereits auf seine erste Oper hin, auch wenn sie Jahre später erst entstehen sollte: „weil oper als gattung unmöglich ist, heute, ist oper die kunstform, in der das wesentliche dieser unserer zeit zum ausdruck gebracht werden kann, wie in keiner form sonst.“
„die töne haben mich geblendet“ entfährt es Stefan bei seinem ersten Auftritt in „abraum“ (Jörg Milbradt, nach Gerhart Hauptmann), Herchets zweitem Werk für das Musiktheater. Der introvertierte und weltoffene junge (Ost-)Berliner steht 1987 in der Tür eines Lausitzer Dorfgasthofs. Die Lausitz ist Braunkohlerevier, Tagebau-, Abraumgebiet. Stefan steht konträr zu einer Gesellschaft, die auch das Religiöse gänzlich abgeräumt hat. Nicht nur die Landschaft, auch das Seelische unterliegt dem Zerüttungsprozess. Sowohl „nachtwache“ als auch „abraum“ – 1993 von Ruth Berghaus und 1997 von Peter Konwitschny in Leipzig inszeniert – waren vom Komponisten konzipiert als Konfrontation eines vorwiegend marxistisch-materialistisch geprägten Publikums mit transzendenter Thematik. Ein mutiger Schritt, auch vom damaligen Intendanten Udo Zimmermann – wenn es auch um die Realisierung zwangsläufig jeweils einige Turbulenzen gab.
Für Regisseur und Autor Hermann Schneider liegt die Qualität von „abraum“ in der ihr inhärenten Mythologie – die sie letztlich auch von der DDR-Spezifik löst: „Am Beispiel des Abräumens von Dorf, Welt und Wirklichkeit aus so genannten „Sachzwängen“ wird der Einzelne angesichts der Leere mit sich konfrontiert.“ Schneider, designierter Intendant des Theaters Würzburg, ist Autor von Herchets dritter Oper „Der Garten“. Sein Libretto ist in der „Festschrift“ ebenfalls enthalten.
Herchets Musik ist ein mehrdimensionales, auf den Raum ausgerichtetes System von Zeichen eigen. Dirigent Lothar Zagrosek findet dafür ein poetisches Wort: „Wenn ich an Herchet denke, fällt mir (…) ein: dass ich in einer klaren Winternacht spazieren gehe und den funkelnden Sternenhimmel erblicke. So kommt mir seine Musik vor: relativ statisch, aber von einer unvorstellbaren Poesie, die etwas Sequenzartiges hat und in sich kreist, immer wieder die Perspektive transformiert – eben wie ein sternübersäter Himmel…“
Raumkompositionen, Netzstrukturen – auch die im Band enthaltenen Werkanalysen sind äußerst vielschichtig mit Beiträgen über Herchets Orgelwerke, aus den Kantatenzyklen oder über „Herchet und Paul Klee“. Eine „Aria mit verschiedenen Veränderungen“ zwischen einer Schildkröte und Achilles meint die „wundersamen Zahlenfolgen“ oder das Verhältnis des Komponisten zur Zahl „1“. Armin Köhler vergleicht Herchets „Raum-Sinfonik“ mit Edgard Varèses „Klangprojektionen“. Die chronologischen aufgereihten Analysen sind der Leitfaden in Christoph Srameks Festschrift. Der Band ist nicht aus einem Guss und ist doch ein komplexes Ganzes – ein Kaleidoskop verschiedenster Blickwinkel auf den Komponisten Jörg Herchet und seine Werke.
Info: Jörg Herchet
Der am 20. September 1943 in Dresden geborene Komponist studierte an den Musikhochschulen in Dresden und (Ost-)Berlin, wo ihm Ende der 60er-Jahre das Examen verweigert wurde. Paul Dessau ermöglichte ihm die Fortsetzung seiner Studien als Meisterschüler. In den 80er-Jahren war Herchet in Donaueschingen und Darmstadt längst anerkannt, im offiziellen heimischen Musikbetrieb führte er den harten Existenzkampf des unbeirrbaren künstlerischen Einzelgängers, dem nach wie vor Aufführungen verwehrt wurden. In sächsischen Kirchen wurden seine Werke uraufgeführt, die Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden kaufte die Autographen. Seit 1990 lehrt Herchet als Dozent, seit 1992 als Professor für Komposition und Analyse an der Hochschule für Musik in Dresden. Sein umfangreiches Œuvre umfasst Kammermusik, Orgel- und Kantatenzyklen, Orchesterkompositionen und drei Opern. Jörg Herchet arbeitet derzeit an seiner vierten Oper, „der anlass“, nach Texten von Hans Henny Jahnn. Ein neunteiliger Komplex für das Musiktheater, für die Oper als „Welt der Zeichen“.