Body
Lebenswege von Musikerinnen im „Dritten Reich“ und im Exil, Arbeitsgruppe Exilmusik Hamburg (= Schriftenreihe Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 8; herausgegeben von Hanns-Werner Heister und Peter Petersen), von von Bockel Verlag Hamburg 2000, 418 S., 48 Mark.
Lebenswege von Musikerinnen im „Dritten Reich“ und im Exil, Arbeitsgruppe Exilmusik Hamburg (= Schriftenreihe Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 8; herausgegeben von Hanns-Werner Heister und Peter Petersen), von von Bockel Verlag Hamburg 2000, 418 S., 48 Mark. Die Pianistin Edith Kraus nahm 1987 in Jerusalem die Klavier-Sonate Nr. 6 von Viktor Ullmann auf, über 40 Jahre zuvor hatte sie dieses Werk zur Uraufführung gebracht – als Lagerinsassin in Theresienstadt. Die Konzerte, die sie im so genannten „Vorzeigeghetto“ der Nazis gibt, retten die einstige Schülerin Artur Schnabels vor dem Transport ins Vernichtungslager Auschwitz. Im Mai 1945 kehrt sie zurück nach Prag, wandert vier Jahre später mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter aus nach Tel Aviv. Dort konzertiert die gebürtige Wienerin mit Werken Theresienstädter Komponisten und unterrichtet an der Universität. Trotz ihrer 88 Jahre ist Edith Kraus bis heute pädagogisch tätig. Einer von 14 Lebensläufen, die von der „Arbeitsgruppe Exilmusik“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg mit bewundernswerter Akribie rekonstruiert wurden. Eine winzige Auswahl nur aus der namenlosen Masse unterdrückter, ins Exil getriebener oder ermordeter Musikerinnen im „Dritten Reich“. Und doch steht jeder einzelne Lebenslauf exemplarisch für das unbekannte Schicksal vieler. Den Jüngeren, wie Edith Kraus, gelingt es meist, nach 1945 ihre musikalische Arbeit mit Erfolg wieder aufzunehmen. Die Tschechin Zuzana Ruzicková etwa, Jahrgang 1929, überlebt als jüdisches Kind vier NS-Konzentrationslager. In Auschwitz verrichtet sie Feldarbeit, im KZ Neuengamme bei Hamburg leistet sie Aufräumdienst in der zerbombten Hansestadt – mit bloßen Händen. Nach Kriegsende holt sie mit eisernem Willen die versäumte Zeit nach und schafft vielen Widrigkeiten zum Trotz eine internationale Karriere als Cembalistin. Für die älteren Künstlerinnen und Komponistinnen dagegen lässt sich der Bruch in der Biografie nicht mehr so leicht kitten. Etwa für Gitta Alpár, um 1900 in Budapest geboren. Sie macht zunächst Karriere als klassische Koloratursopranistin an der Berliner Staatsoper, dann begeistert sie in der Metropole als Operettendiva im Léhar-Duett mit der Jahrhundertstimme Richard Tauber: „Wir wollen wandern wie’s uns gefällt, denn uns gehört doch die ganze Welt“. Am 28. März 1933 verkündet Joseph Goebbels im Hotel Kaiserhof vor der versammelten Berliner Theater- und Filmprominenz, die Juden unter ihnen seien nicht mehr erwünscht. Gitta Alpár, Jüdin und in so genannter „Mischehe“ mit dem Filmschauspieler Gustav Fröhlich verheiratet, verlässt noch in derselben Nacht Berlin und emigriert nach Budapest, dann nach Wien und London. Von 1939 bis zu ihrem Tod 1991 lebt sie in den USA, Engagements bleiben aus. Der einst umjubelte Operettenstar, den kein Geringerer als Karl Kraus als „souveränste Operettengestalt“ Berlins feierte, stirbt in völliger Vergessenheit. Der Hamburger Band bringt noch zwei weitere Beispiele dieser „Mischehen“. Stets sind es die Frauen, die, anders als Gustav Fröhlich, couragiert zu ihren jüdischen Partnern halten: Cissy Kraner, noch heute als Diseuse in Österreich zu erleben, folgte ihrem Geliebten, dem Operetten- und Chansonkomponisten Hugo Wiener, ins Exil nach Kolumbien. Und die Hamburgerin Ilse Fromm-Michaels wird wegen ihres jüdischen Mannes mit „Sippenhaft“ bestraft. Schon 1933 unterliegen ihre Kompositionen einem Aufführungsverbot. Auftreten darf die international bekannte Pianistin auch nicht mehr, dabei hatte sie unter Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler gespielt. Zwar erhält Ilse Fromm-Michaels nach dem Krieg eine Professur an der Hamburger Musikhochschule, ihr kompositorischer Elan aber ist gebrochen. Die im ambitionierten Hamburger von-Bockel-Verlag erschienene biografische Essaysammlung vorwiegend junger Autoren „schließt keine Lü-cke”, wie es im Nachwort treffend heißt, sie will „auf eine große aufmerksam” machen. Und dies ganz zu Recht, denn die musikalische Exilforschung, ohnehin erst seit den 80er- Jahren existent, hat die Kategorie des „Geschlechts” bisher ignoriert. Dass Frauen sich im „Dritten Reich“ und im Exil offenbar anders verhielten als viele männliche Kollegen, dass sie oft die Ersten waren, die die „braune“ Gefahr wirklich erkannten und zielstrebig die Emigration der ganzen Familie vorbereiteten, zeigen viele der hier vorgestellten Lebenswege überdeutlich. Oft auch waren Musikerinnen im Exil gezwungen, ihre traditionelle Rolle aufzugeben und neue unkonventionelle Wege zu beschreiten, wobei sie nicht selten Pionierarbeit leisteten. Vally Weigl etwa, Pianis-tin und Klavierpädagogin aus Wien. In New York mit 55 Jahren auf sich allein gestellt, entdeckt sie die Musiktherapie für sich und etabliert bis ins hohe Alter den Arbeitsbereich Tanztherapie an führenden Kliniken der US-Metropole. Oder die 1921 im badischen Kippenheim geborene Pia Gilbert. Für sie bedeutet das Exil geradezu eine künstlerische Befreiung, die den Weg ebnet zu einer Karriere im Bereich des Modern Dance: für Martha Graham und zahlreiche andere Choreografen schreibt sie Partituren, und unter ihrer Ägide werden Tanzabteilungen an großen amerikanischen Universitäten eingerichtet. Eine Biografie, in der sich die Erlebnisse des Exils gleich zweimal bündeln, gehört zu Leni Alexander, 1924 in Breslau geboren. Als jüdisches Mädchen mit ihrer Familie aus Deutschland nach Chile vertrieben, erleidet sie zur Zeit der Diktatur Pinochets ein zweites Mal Verfolgung und Exil. Heute lebt und arbeitet die Komponistin Neuer Musik, die bei Olivier Messiaen und bei Bruno Maderna studiert hat, in Chile, Frankreich und Deutschland. Zahlreiche Hörstückekünden von den Erlebnissen der Vertreibung. Exil – das bedeutete aber zumindest die gelungene Flucht vor der NS-Diktatur. Auch einer Lebensspur, die abrupt endet, folgt das Buch: dem Weg der jungen Wiener Konzertgeigerin Alma Rosé. Sie kommt April 1944 in Auschwitz um. Dort leistete sie vom August 1943 bis zu ihrem Tod musikalische Schwerst- und Zwangsarbeit als Leiterin des Lager-Orchesters – mindestens zwölf Stunden tägliches Üben, Marschmusik am Lagertor, Konzerte am Abend und sonntags. Es war Alma Rosés ganzer Wunsch, dass ihrem Vater, Arnold Rosé – einem führenden Violin-Virtuosen seiner Zeit, der mit Gustav Mahler, Bruno Walter und Adolf Busch zusammen musizierte – von ihrer musikalischen Arbeit im KZ berichtet würde. Im Londoner Exil erfuhr Arnold Rosé von der letzten musikalischen Tätigkeit seiner Tochter.