Die neue Musik liegt im Sterben – und Hubert Stuppner ist der unbarmherzige Samariter, der sie genüsslich zu Tode pflegt. Seinen wortgewaltigen Arbeitsbericht legt er unter folgendem Titel vor – einer ersten umständlich monströsen Drohgebärde: „Endzeit-Sonate. Frankenstein oder: Die Minnesänger des Untergangs. Eine Satire, ein Totentanz, eine Parabel.“ Dass diese Drohung keine leere bleibt, dafür sorgt schon das Szenario, das der mit jeder Menge perfider Fantasie gesegnete Bozener Komponist und Musikschriftsteller in einem virtuosen Konstrukt erstehen lässt: Ein „Kur- und Krankheitszentrum für leidende zeitgenössische Komponisten“ soll als Synonym für den Zustand der ernsten Musik seit der vergangenen Jahrhundertmitte herhalten.
Für die Begriffsstutzigen noch ein paar Hinweise: Diese Art Nervenheilanstalt steht in Donaueschingen, heißt „Schöneberg’sches Sanatorium“, hat dementsprechend zwölf Abteilungen und wird von dem ominösen Professor H.C. Frankenstein geleitet. Wer sich hinter diesem negromantischen Analytiker und „Musica-Negativa“-Spezialisten verbirgt, ist ebenso subtil angedeutet und Stuppner reitet auf derlei Adorno-Klischees bis zum Überdruss weiter herum. Doch mit sachlichen Argumenten ist dieser Brachial-Polemik ohnehin nicht beizukommen. Was würde es nützen, anzumerken, dass die kaum verhohlene Etikettierung als „kranke Musik“ von einem bedenklichen Mangel an historischem Fingerspitzengefühl zeugt; dass die Zusammenstellungen von Komponisten zu Therapie-Abteilungen – etwa Feldman und Lachenmann als „Klang-Rachitiker und akustisch Magersüchtige“ – mitunter abenteuerlich ist; oder dass der frischgebackene Siemensianer Kagel erst zu den „surrealistischen Geräuschemachern und dadaistischen Provokateuren“ gezählt wird, dann aber im Traumgespräch zur Station der „musikalischen Konsonanz- und Feuchtigkeitsbegierden im ,New Age‘“ zu Wort kommt.
Überhaupt die Gespräche: Stuppner bedient sich dieses Kunstgriffs, um keinen Tonsetzer persönlich als Irren porträtieren zu müssen, denn beim Besuch der Abteilungen selbst sind es Namenlose, die mit den Werken Stockhausens, Ligetis oder Henzes identifiziert werden. In den jeweils davorgeschalteten Traumgesprächen gelingt es Stuppner aber seiner übersprudelnden Beredtheit und manch chamäleonhafter Stilkopie zum Trotz nicht, die Musiker wirklich zum Sprechen zu bringen. Mit denselben, an O-Töne nur vage angelehnten Worthülsen, die er einem Sokrates, Pascal oder Demokrit als fiktiven Gesprächspartnern in den Mund legt, antworten dann Cage, Messiaen oder Reich. Auch als kritische Illustration der Unsitte, dünnste kompositorische Substanz durch wortreiches Philosophieren zu bemänteln, taugt dieses Stilmittel nicht, denn was ist Stuppners Buch anderes als eine Bemäntelung der eigenen, bis zur Unkenntlichkeit vernebelten Position mit „pseudomythologischer Katastrophen-Rhetorik“ – so die treffende Charakterisierung der Tiraden, mit denen Frankensteins Assistent Scardanelli als personifizierter Seitenhieb auf die Hölderlin-Mode den Gang durch die Anstalt begleitet.
Denn das Irritierende an diesem zugegebenermaßen immer wieder unterhaltsamen Pamphlet ist die permanente Maskerade, hinter der sich Stuppner verschanzt. Natürlich schüttet nicht er oder wenigstens der Ich-Erzähler Verbalinjurien wie die folgenden über einen Patienten des zweiten (Xenakis-) Pavillons aus, da lässt er vornehm Scardanelli den Vortritt: „Er hat sich in einem Anflug von pythagoreischem Narzißmus auf die Selbstbespiegelung durch Zahlen zurückgezogen und onaniert in egoistischen Gleichungen unkritisch vor sich hin: ein Fall von höherer Complexo-Idiotie.“ Zu allem Überfluss findet der Erzähler am Ende jeder Station noch ein Manuskript oder verfolgt ein weiteres Gespräch oder lauscht einem Vortrag oder... Aber wo steht Stuppner wirklich? Was hat er uns eigentlich zu sagen, und was sind seine Alternativen? Das liegt unter einem Trümmerhaufen brillanter bis abgeschmackter Bonmots verschüttet. Oder beschränkt sich seine Position auf das, was er in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vortrug, als – nicht nur der geschichtsphilosophischen Diskussion ein Stück weit nachhinkend – vom Ende des autonomen Kunstwerks und der eurozentristischen Systemgläubigkeit die Rede war? Oder auf den Gemeinplatz von der Kraft der Spontaneität, die wiederzugewinnen sei, am Schluss des Buches?
So tut sich hinter der grandiosen Redundanz dieser Invektive die gähnende Leere einer Jahrtausendwende auf, zu der uns auch Stuppner keinen Anhaltspunkt bietet, wie sie musikalisch oder wenigstens musikkritisch zu gestalten wäre.
Hubert Stuppner: Endzeit-Sonate, ConBrio, Regensburg 1999, CB 1079, 224 Seiten, 34,80 Mark.