Max Weber: Musiksoziologie, Nachlass 1921, hrsg. von Ch. Braun und L. Finscher (Max Weber-Gesamtausgabe I/14), Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 446 S., € 149,00, ISBN 3-1614-6956-9
Theodor W. Adorno verwies 1958 in seinen „Ideen zur Musiksoziologie“ auf eine Arbeit Max Webers mit den Worten, dieser sei der „Autor des bislang umfassendsten und anspruchsvollsten Entwurfes einer Musiksoziologie“. Diese Arbeit Webers kursierte damals unter dem Titel „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ an eher versteckten Stellen im Werk Webers. Jetzt, mit dem Band I/14 der Max Weber-Gesamtausgabe erhält es einen würdigen Platz. Und zwar kurioserweise unter dem Titel „Zur Musiksoziologie“, den Weber selbst als Arbeitstitel gewählt hatte, obwohl es eher um die „rationalen Grundlagen“ der Musik im Abendland geht. Diese Schrift Webers ist nie im eigentlichen Sinn vollendet worden, weist aber dem Umfang und den Themen nach den Charakter eines riesigen Fragmentes auf. Es stammt aus der Zeit von 1910 bis 1920. Jeder, der sich einmal mit Musiksoziologie beschäftigt hat, kennt es. Aber dieser Aufsatz ist alles andere denn eine vergnügliche Lektüre. Der Text ist sperriger als andere Texte Webers, denn er befasst sich ganz unmittelbar und langwierig zu Beginn mit verschiedenen Tonsystemen, ohne dass man ahnen könnte, welche Absicht damit verfolgt wird. Erst ganz langsam, beinahe vorsichtig führt Weber zum Gedanken einer „rationalen Weltauffassung“ – eben auch in der Musik des Abendlandes.
Was diesen Band der Weber-Gesamtausgabe vor allen Dingen auszeichnet, ist der zum wesentlichen Teil von Christoph Braun verfasste Herausgebertext. Auf über 120 Druckseiten hat er den zahlreichen persönlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Bezügen der Arbeit Webers nachgespürt. Braun umkreist nicht nur diejenige Musik, die Max Weber selbst kannte, er erinnert nicht nur an viele Gesprächsrunden im Hause Weber zum Thema Musiksoziologie. Nein, er ordnet Weber ein in die damaligen Entwicklungen von Kulturtheorien und das entstehende Feld der Musikgeschichte (Adler und Riemann), -ethnologie (Hornbostel, Stumpf) und -theorie (Helmholtz, Stumpf, Chladni) ein. Weber (von Hause eben nicht Musikwissenschaftler) ist mit dieser Schrift wirklich gelungen, zwischen den zum Teil sich anfeindenden Teildisziplinen des wissenschaftlichen Umgangs mit Musik einen Entwurf historischer Bedingungen von Musik im Abendland herauszuarbeiten.
Max Webers Studie zur Musiksoziologie verdichtet die aktuellen Kenntnisse der verschiedenen Disziplinen und wirft ihre Resultate im Rahmen einer umfassenderen Kultursoziologie zusammen. Er verengte nicht den Blick durch vorurteilsbehaftete Ausgrenzung und gelangte darum zu seiner facetten- und kenntnisreichen Untersuchung zur Musik(-geschichte?, -soziologie?). Anders als beispielsweise in dem umfangreichen Musikteil von „Geist der Utopie“ von Ernst Bloch (1918), der zeitweilig dem Heidelberger Kreis um Weber angehört hat, bleiben simple Analogien zwischen Kunst und Gesellschaft aus; es sei denn „richtige“, wie bei der Entwicklung im Instrumentenbau, beispielsweise der Benennung des modernen Klaviers als eines „bürgerlichen Möbels.“ Dank Brauns Recherchen weiß man auch, dass Weber hierbei Oskar Bie zitiert. Ein weiteres Beispiel: Weber erklärt die verschiedenen Entwicklungen der Klavierliteratur zum Beispiel auch klimatisch: „Träger der Klavierkultur sind daher nicht zufällig die nordischen Völker, deren Leben schon rein klimatisch hausgebunden und um das ,Heim’ zentriert ist, im Gegensatz zum Süden.“ Ein solches Denken reflektiert genau die Fragestellung, die Weber in seiner Vorbemerkung zu seinen religionssoziologischen Schriften präzise formulierte: „Das musikalische Gehör war bei anderen Völkern anscheinend eher feiner entwickelt als heute bei uns; jedenfalls nicht minder fein. Polyphonie verschiedener Art war weithin über die Erde verbreitet, Zusammenwirken einer Mehrheit von Instrumenten und auch das Diskantieren findet sich anderwärts. Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch anderwärts berechnet und bekannt. Aber rationale harmonische Musik […] dies alles gab es nur im Okzident.“ Max Weber fragt ganz einfach: „Wieso hier?“ Und seine Antwort ist seine Arbeit „Zur Musiksoziologie“.
Der Herausgeber Christoph Braun hat so ziemlich alle Beziehungen akribisch notiert und auch durch Fußnoten im Weberschen Text kenntlich gemacht. Sein Text allein schon lohnt die Lektüre, er zeichnet die spannende und teils unorthodoxe Entwicklung des sich seiner Wissenschaftlichkeit versichernden Fachs „Musikwissenschaft“. Nicht missen möchte man auch den Anhang. Er besteht aus einem umfassenden Personenverzeichnis, einem ausgezeichneten, ja geradezu lexikalischem Glossar und einem Personen- wie Sachregister samt Textseitenkonkordanz. Alles in allem, ein Standardwerk musik- und kulturwissenschaftlicher Forschung.