„Über Dirigenten kann man sich wundervoll streiten. Über Dirigenten kann man nicht besonders gut schreiben“, heißt es zu Beginn des neuen Handbuchs von Julian Caskel und Hartmut Hein. Trotz dieser Einschränkung werden rund 250 Dirigenten vorgestellt. Außerdem gibt es sechs Essays, die dem Phänomen Dirigent ein wenig näherzukommen versuchen, darunter: „Aspekte einer Kultur- und Ideengeschichte des Dirigierens“ und „‚Werktreue‘ und die ‚Aura‘ des Dirigenten: Eine Einführung in ein ästhetisches Dilemma“.
Natürlich können diese Essays nicht alle Facetten der Sphinx abbilden, ebensowenig wie die lexikalischen Einträge, deren methodischer Aufbau (Biografie, Interpretationsansatz, CDs, DVDs) an den bereits 2008 im selben Verlag veröffentlichten Band „PianistenProfile“ erinnert. Es handelt sich nicht um bloße Nachahmung, sondern eine erfolgreich erprobte, sinnvolle Entsprechung. Nun ließe sich inhaltlich einwenden, dass, wie im Vorwort erklärt wird, auf einige „Kapellmeister“ bewusst verzichtet wurde. So sucht man Namen wie Ferdinand Leitner oder Horst Stein leider vergeblich, findet aber dafür Einträge zu Piero Coppola, Matthias Bamert oder Enrique Bátiz. Auch dirigierende Komponisten wie Strauss oder Britten tauchen nicht auf, dennoch gibt es erfreulich viele Einträge zu Dirigenten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Levi, Hausegger, Richter, Nikisch …
Da insgesamt 18 Autoren an diesem Handbuch mitgearbeitet haben, fällt die Qualität der einzelnen Texte unterschiedlich aus: Klare Einordnungen und anschauliche Beschreibungen hier, unscharfe Formulierungen und offene Fragen dort. Was etwa dürfte gemeint sein mit: „Abbados Persönlichkeit verbindet im Grunde einen weisen alten Mann und einen schalkhaften unernsten Jugendlichen, während ihm die Attitüden des seriös-kommerziellen Erwachsenen wenig zu bedeuten schienen.“ Auch die Aussage, dass Christian Thielemann sich zum Dirigieren verhält „wie die Großmutter zum Apfelkuchen“, bleibt schwammig. Dagegen stechen Artikel wie etwa über Mariss Jansons heraus, ebenso exemplarische Detailbeobachtungen wie beispielsweise zu Paavo Järvis Beethoven-Interpretationen.
Insofern ist ein einheitliches Resümee schwierig. Während der Band der „PianistenProfile“ quantitativ umfangreicher (ohne nennenswerte Auslassungen wichtiger Namen) und qualitativ einheitlicher ausfiel, bleiben hier einige Texte im Vagen oder Pauschalen stecken, andere Artikel zeugen von genauem Hinhören und einer subtilen ästhetischen Einordnung. Da Dirigenten-Lexika ähnlicher Art derzeit auf dem Buchmarkt fehlen, bleibt dieser Band ohne Alternative. Allerdings möchte man auf Publikationen wie Wolfgang Schreibers „Große Dirigenten“ als Ergänzung nicht verzichten.
Wer statt Handbuch-Charakter lieber Vertiefendes zu einzelnen Dirigenten sucht, wird bei Michail Jurowski und Riccardo Chailly fündig. Im Fall Jurowksi hat der Musikjournalist Michael Ernst viele Gespräche ausgewertet und gewährt nun vor allem im ersten Teil des Bandes unmittelbare Einblicke in Jurowskis Leben zu Sowjet-Zeiten. Groß geworden ist er in einer Musiker-Familie – der Großvater Dirigent, der Vater Komponist – und entsprechend illustre Gäste gingen zuhause aus und ein. Doch war im antisemitisch geprägten Klima das Leben für die Familie kein Zuckerschlecken, weshalb Michail später in Berlin neue Herausforderungen suchte. Manchmal wirken die Details in diesem Buch – was wann wo – etwas kleinschrittig, andererseits zählen die persönlichen Bekenntnisse und die Ausführungen über Jurowskis interpretatorische Vorstellungen zu den Höhepunkten. Ein anekdotenreiches, nie stur der Chronologie folgendes Buch, das ein Porträt zeichnet, das zwischen Nähe und Distanz pendelt. Gerade wenn man glaubt, tief in Jurowskis Welt eindringen zu können, entstehen plötzlich einige Leerstellen und eine Nüchternheit, die weniger sachlich als vielmehr leicht rätselhaft erscheint.
In Italien hat der Musikkritiker Enrico Girardi Gespräche mit Riccardo Chailly geführt und diese in vier thematische Blöcke gegossen: „Musik und Leben“ versteht sich als eine Art Einführung, „Biografie einer Leidenschaft“ rückt Chaillys Werdegang und einige schicksalhafte Begegnungen in den Mittelpunkt; in „Der Fingerabdruck der Partitur“ wird die Rolle des Dirigenten auf der Bühne beleuchtet, wie er allein vor einem Orchester steht oder namhafte Solisten in seine Arbeit einbinden muss. Im längsten Abschnitt, „Musik als Begegnung“, stehen Chaillys Auffassung von Opernregie und ausgewählte Komponisten im Fokus, von Bach bis Boulez, von Mozart bis Nono.
Immer wenn Chailly Persönliches erzählt, gewinnt das Buch an Intensität, auch wenn er konkret wird, etwa bei der Frage, wie das Handwerk eines Dirigenten zu letztlich musikalisch erfüllenden Momenten führen kann. Manchmal würde man in diesen Momenten gerne einschreiten und nachfragen und alles noch genauer wissen. Dann aber lässt Girardi den Maestro ziehen und belässt es bei dem Gesagten. Einige Kapitel, etwa über die Entstehung von CD-Produktionen oder über die Zusammenarbeit mit Solisten, bleiben von vornherein etwas oberflächlicher. Auch hier also viele bedenkenswerte Einblicken, aber auch Grauzonen, in denen sich eher Allgemeinplätze tummeln.
- Hartmut Hein/Julian Caskel (Hrsg.): Handbuch Dirigenten. 250 Porträts, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2015, 421 S., € 39,95, ISBN: 978-3-476-02392-6
- Riccardo Chailly (mit Enrico Girardi): Das Geheimnis liegt in der Stille. Gespräche über Musik, Henschel/Bärenreiter, Leipzig/Kassel 2015, 192 S., € 22,95, ISBN 978-3-89487-944-0
- Michail Jurowski. Dirigent und Kosmopolit. Erinnerungen, notiert von Michael Ernst, Henschel, Leipzig 2015, 207 S., € 24,95 ISBN 978-3-89487-781-1