Vor dem Hintergrund zahlreicher Studien zur Musik und Musikausübung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern konnte sich in den letzten Jahrzehnten leicht der Eindruck aufdrängen, in den Lagern der Sowjetunion hätte es nichts annähernd Vergleichbares gegeben. Vorliegende Studie belehrt den Leser eines Besseren – und sie tut es in souveräner Weise, indem sie den benannten Themenkomplex in seiner ganzen Breite und unter Einbeziehung einer ungeheuren Materialfülle aufarbeitet.
Die Autorin ist mit der internationalen Literatur über die Formen und Funktionsweisen der sowjetischen Zwangsarbeitslager (Gulag) bestens vertraut und geht Hinweisen auf einzelne Musiker und unterschiedlichste Musikpraktiken mit detektivischem Gespür nach. Dabei stützt sie sich auf die Früchte ihrer ausgedehnten Archivforschungen in Russland. Ebenso wie im Laufe der Untersuchungen einerseits die Existenzformen und Wirkungsweisen des Gulag unter dem Aspekt der Musik und musikalischer Praktiken eine neue, bedrückende Anschaulichkeit erlangen, differenziert sich andererseits der traditionelle Musikbegriff und damit auch das Bild „sowjetischer Musik“ im Spiegel der Lebenswirklichkeit des Gulag.
Dieser interdisziplinäre Horizont bewahrt die Autorin davor, einseitig nach großen Werken und Komponistennamen zu suchen: Unter den Bedingungen des Gulag ist „Musik“ ein primär funktionales Phänomen. Dem entsprechen die Praktiken und Erscheinungsformen selbst: So trifft man auf zwangsverordnetes wie selbstbestimmtes Musizieren, inszenierten wie freien Lied- und Chorgesang, in den besten Fällen auch auf Darbietungen klassischer Musik – von Klavier- und Kammermusik bis hin zu symphonischer Musik, Opern und Operetten durch Sträflingsensembles. Als extreme Variante kommt die „verordnete Stille im Gefängnis“ hinzu (S. 506).
Die Autorin sieht eine Kontinuität von den zaristischen Straflagern zu den sowjetischen Haftanstalten ab 1918, da eine Reihe früherer politischer Häftlinge „im neuen Sowjetstaat in gesetzgebenden Institutionen tätig wurde“ (S. 26). Bis in die 1930er Jahre stand zunächst die Idee politischer Umerziehung im Vordergrund der Haftanstalten, denen sich alle Formen der „verordneten Musikausübung“ zu fügen hatten. Eine große, nicht unmittelbar funktional anmutende Musiziervielfalt, unter Umständen zu repräsentativen Zwecken, blieb dabei erhalten: So gab es im ersten großen Zwangsarbeitslager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer (1923–1938) über den Chorgesang hinaus sogar ein eigenes Symphonieorchester, ein Blasorchester und diverse Kammermusikensembles (dank gut ausgebildeter Profimusiker).
In den 1930er-Jahren kamen Zwangsarbeiter in großer Zahl beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals und des Moskau-Wolga-Kanals zum Einsatz. Um die Arbeitsproduktivität zu steigern, war es den Lagerleitungen wichtig, ein geordnetes und vergleichsweise vielfältiges Musikleben zu organisieren. So begleiteten Musiker die tägliche Arbeit im Kontext sogenannter „Agitationsbrigaden“, ohne dass ideologische Inhalte noch eine wesentliche Rolle spielten. Anstelle von Umerziehung sprach man jetzt von „Umschmiedung“ (perekovka). Wo immer es Musik gab, diente sie vor allem der optimierten Ausbeutung der Arbeitskraft der Gefangenen und ihrer Disziplinierung (S. 239).
Ein weiteres Großkapitel ist der „verordneten Musikausübung“ des Gulags der 1940er- und 50er-Jahre gewidmet. Welche Ziele und Praktiken mit der „Kulturerziehungsarbeit“ im Einzelnen verbunden waren, wird anhand von Dokumenten, Berichten und Erinnerungen sowohl aus der Perspektive des Unterdrückungsapparats als auch der Gefangenen selbst herausgearbeitet. Indem die Autorin auf einzelne Lager und deren Kulturaktivitäten zu sprechen kommt, entsteht ein dichtes und vielgestaltiges Bild der Epoche. Die Lager erweisen sich dabei weniger als eine Ausnahmezone der sowjetischen Gesellschaft als vielmehr als deren Abbild. Von großer Eindringlichkeit ist die Darstellung der Formen „selbstbestimmten Musizierens“ der Häftlinge, im Rahmen derer ein großes Repertoire situativ gebundener Lieder benannt wird – Lieder im Gefängnis, auf dem Transport, im Lager (S. 515 ff.).
„Subversive Musik“ dürfte es letztlich nur aus der Sicht und der späteren Erinnerung der Gefangenen gegeben haben (zum Beispiel durch die Unterwanderung des offiziellen Liedguts), denn Äußerungen von Widerstand, wenn man denn von solchen überhaupt sprechen möchte, wurden brutal unterdrückt und blieben letztlich ohne Einfluss auf das Gulag-System selbst. Insgesamt wirkte die Musik in doppeltem Sinne stabilisierend: Sie verlieh den Häftlingen Halt und Tröstung bei der Bewältigung der schwierigen Situation des Lageralltags und trug zugleich zur Festigung des Unterdrückungssys-tems bei.
Ein besonderes Interesse gilt den Einzelschicksalen der Häftlinge: Konsequent werden biographische Details und Listen mit den Namen bekannt gewordener Musiker der Lager ausgebreitet. Scharf wird der Vorstellung entgegengetreten, Musiker seien von Verhaftung und Lagerhaft nicht oder nur peripher betroffen gewesen. Auch prominentere Figuren gehören zu den Opfern der sowjetischen Strafverfolgungsbehörden, wie der Pianist Heinrich Neuhaus (1888–1964), oder gerieten in Lagerhaft, wie der Komponist Alexander Mossolow (1900–1973).
Angesichts der Fülle menschlicher Tragödien spricht die Autorin von einem „Aderlass des sowjetischen Musiklebens“, welcher der Kultur des Landes größten Schaden zugefügt habe. Das hätten Darstellungen der Musikgeschichte der Sowjetunion viel stärker als bislang zu berücksichtigen.