Hector Berlioz: Memoiren. Neu übersetzt von Dagmar Kreher. Herausgegeben und kommentiert von Frank Heidlberger. Bärenreiter, Kassel 2007, 680 Seiten, gebunden, € 64,00, ISBN 978-3-7618-1825-1
Hector Berlioz: Memoiren. Aus dem Französischen von Hans Scholz. Herausgegeben und kommentiert von Gunther Braam. Hainholz, Göttingen 2007, 920 Seiten, gebunden (Lederfaser), € 59,00, ISBN 978-3-932622-90-8,
„Variétés de spleen. L’isolement.“ So ist eines der zentralen Kapitel der Memoiren von Hector Berlioz überschrieben. Die rückblickende Schilderung einer erstmals im Alter von 16 Jahren auftretenden extremen Gefühlserscheinung – sie trägt pathologische Züge – ist nicht nur literarisch brillant, sondern korrespondiert auch mit der personifizierenden Behandlung der Soloviola in der Harold-Symphonie oder der „Scène aux champs“, der desolaten Pastorale aus der „Symphonie fantastique“. Für den Übersetzer hält das Kapitel schwere Brocken bereit. Schon in der Überschrift deuten sich die Eigenarten der beiden Neuausgaben an: Wo Hans Scholz 1914 ein elegantes „Allerlei Spleen“ hinwirft, buchstabiert Dagmar Kreher „Verschiedene Arten von Spleen“; wo Berlioz im Folgenden mit poetischer Drastik sein „mal de l’isolement“ ausmalt, diagnostiziert Kreher, die französische Wortbedeutung genauer treffend, eine „Krankheit der Vereinsamung“, während Scholz „Einsamkeitsweh“ dichtet.
Eine längere Passage schließt sich bei Kreher wie folgt an: „Und der Anfall brach in seiner ganzen Gewalt aus, ich litt entsetzlich, warf mich auf den Boden, schluchzte, spannte meine schmerzenden Arme aus, riss krampfartig ganze Büschel von Gras und unschuldige Gänseblümchen aus, die vergebens ihre großen erstaunten Augen öffneten, und kämpfte gegen das Abwesendsein, gegen die schreckliche Vereinsamung.“ Hans Scholz übersetzt: „Und der Anfall brach mit aller Macht aus; ich litt schrecklich, warf mich zur Erde, seufzend, die Arme schmerzlich gebreitet, riß krampfhaft Gras aus und unschuldige Gänseblümchen, die mich vergeblich aus großen, verwunderten Augen ansahen, und rang mit der Verlassenheit, mit der gräßlichen Vereinsamung.“
Auch hier ist Dagmar Kreher mit „Abwesendsein“ der Bedeutungsnuance von „absence“ im Sinne von „geistesabwesend“ näher als Scholz mit „Verlassenheit“, und doch reißt Scholz uns stärker mit, trifft den Berlioz’schen Tonfall, diese Mischung aus Flamboyanz und Präzision, die auch seine Musik ausmacht, mit sicherem Instinkt. Wenn Berlioz freilich zuvor seinen allmählich abdriftenden Seelenzustand mit der Formel umschreibt „la vie était hors de moi“ (etwa: „das Leben war außerhalb meiner selbst“), so stoßen beide an die Grenzen des Übersetzbaren, Kreher mit „das Leben war spürbar fern von mir“ ebenso wie Scholz mit „wie weit von mir liegt doch das Leben“.
Die Eigenarten beider Übersetzungen haben natürlich auch damit zu tun, dass uns Hans Scholz’ Sprache von 1914 jenes Gefühl von historischer Distanz ganz natürlich vermittelt, das Dagmar Kreher in ihrer Neuübersetzung wohl zu Recht nicht erzwingen will. Ihre Stärke liegt in der engen Anlehnung an das Original, das um der Genauigkeit willen auch einmal einen Formulierungsumweg einschlägt. Dass ihre Version dennoch flüssig, stilistisch einwandfrei bleibt, ist ein nicht gering zu schätzendes Verdienst.
Endlich liegen Berlioz’ Memoiren, ein Dokument der Musik- und Literaturgeschichte gleichermaßen, nun also wieder auf Deutsch vor. Grund genug, beide Übersetzungen freudig zu begrüßen, statt sie kleinlich gegeneinander auszuspielen. Zumal die weit verbreitete Übertragung von Elly Ellès (1905, sie ist derzeit unkommentiert in der Sammlung literarischer Werke bei
Laaber lieferbar) an die Prägnanz derjenigen von Scholz nicht heranreicht. Auch die editorische Leistung beider Ausgaben, ist – jede auf ihre Art – vorbildlich. Frank Heidlberger vermittelt dem Leser in seinen kommentierenden Fußnoten zur Neuübersetzung den Blick aufs Ganze, auf den gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen und musikhistorischen Hintergrund, während der einleitende Essay die unterschiedlichen Textschichten dieses nicht am Stück geschriebenen Werkes präzis umreißt und Berlioz’ literarische Bewältigung seiner bewegten Lebensgeschichte klug kommentiert. In einer überaus nützlichen Zeittafel werden biographische und zeitgeschichtliche Daten den entsprechenden Buchkapiteln gegenübergestellt, alle erwähnten Personen (knapp 900) finden sich kommentiert im Register, das außerdem die Werke Berlioz’ erschließt.
Gunther Braam wiederum hat sich mit höchster wissenschaftlicher Akribie der Edition der Scholz-Übersetzung angenommen. Zwar relativiert sich die absolute Zahl von über 2.600 Fußnoten (gegenüber den knapp 1.000 bei Heidlberger), wenn man die von Braam konsequent auch mehrfach gelieferten Personendaten abzieht. Dennoch liefert er mehr Fakten (etwa auch zu Werken, die nicht von Berlioz stammen), und – ein unschätzbarer Vorteil – er stellt mehr Querverbindungen zwischen den Kapiteln her. Ganz entgeht er aber auch nicht der Gefahr, im Eifer der Vollständigkeit das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: Wenn Berlioz etwa auf den „vorsintflutlichen“ Unterricht bei Jean-François Lesueur zu sprechen kommt (Kap. 6), zählt Braam einige seiner Werke und Karrierestationen auf und liefert Rameaus Lebensdaten. Heidlberger dagegen nimmt die Erwähnung Rameaus zum Anlass, auf Berlioz’ bereits zuvor zutage getretene Ablehnung von dessen Theorien einzugehen und einen von Berlioz missverstandenen Aspekt daraus zu erläutern; in einer weiteren Fußnote umreißt er Lesueurs Unterrichtskonzept.
Für Bibliophile bleibt, auch angesichts des Preises, aber wohl nur eine Wahl. Was der Hainholz Verlag vorlegt – mit Unterstützung der Bayer Kulturstiftung, die damit ihre Berlioz-Saison 2003/04 zu einem verspäteten, aber triumphalen Abschluss bringt –, ist eine in Ausstattung und Verarbeitung vorbildliche, ledergebundene Kostbarkeit. Das Schriftbild ist von zeitloser Eleganz und wird nur von den bisweilen doch arg Überhand nehmenden Fußnotenziffern gestört. Die hervorragend wiedergegebenen Abbildungen (14 Porträts und 7 Seiten aus dem Autograph der „Mémoirs“) bereichern den Band substanziell, die Kapitelnummern in den Kopfzeilen sind eigentlich unverzichtbar. Im Anhang legt Braam Rechenschaft über die Korrekturen ab, die er Scholz’ Übersetzung angedeihen ließ; das Register umfasst wiederum auch jene nicht von Berlioz stammenden Werke und listet im Berlioz-Eintrag auch thematische Stichworte auf, vor allem aber sämtliche erwähnten Konzerte – beispielhaft.
Der wahre Berliozianer wird andererseits nicht um Heidlbergers souverän gewichtende, ebenfalls sorgfältig produzierte Edition herumkommen wollen. Warum auch, was sind schon zwei Ausgaben der Memoiren für einen, der, von Metternich gefragt, ob er derjenige sei, der Musik für fünfhundert Musiker komponiere, antwortete: „Nicht immer, Durchlaucht, manchmal auch für vierhundertfünfzig.“?