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Peter Alheit/Kate Page/Rineke Smilde: Musik und Demenz. Das Modellprojekt „Music for Life“ als innovativer Ansatz der Arbeit mit Demenzkranken
Peter Alheit/Kate Page/Rineke Smilde: Musik und Demenz. Das Modellprojekt „Music for Life“ als innovativer Ansatz der Arbeit mit Demenzkranken
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Bessere Lebensbedingungen schaffen

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Ein Modellprojekt zum Thema „Musik und Demenz“ wurde dokumentiert
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Menschen mit Demenz leben häufig nur noch am Rand der Gesellschaft. Selbst von engsten Angehörigen wird meist nur mit Trauer wahrgenommen, dass sie am gemeinsamen Leben nicht mehr teilnehmen. Ganz falsch, sagen die Autoren dieses Buches: „Es gibt Alternativen im Umgang mit der Demenz [...]. Das Leben mit Demenz ist kein entwicklungsloser Zustand.“ Und gerichtet an die Hauptzielgruppe dieser Publikation: „Junge Musiker sollen für andere Praxisfelder begeistert werden als nur für den Konzertsaal oder das Konservatorium.“ Die wirklich interessante Entwicklung musikalischer Praxis sei heute, „dass die Musik zur Arbeit an sozialen Problemen beitragen kann, die mit den ,klassischen‘ Mitteln sozialer Arbeit nicht mehr gelöst werden können“.

Das Buch des deutsch-britisch-holländischen Autorenteams beschreibt ein vor einigen Jahren durchgeführtes, acht Wochen dauerndes Vorhaben an der Londoner Wigmore Hall, bei dem im Rahmen eines seit 1993 laufenden Modellprojekts „Music for Life“ demenzkranke Menschen von professionellen Musikern zum Mitmachen und Mitspielen angeregt wurden. In diesem Fall nahmen acht kranke Frauen, vier Musiker (Oboe, Harfe, Cello, Flöte) und mehrere Pflegekräfte teil. Eine Fülle leicht zu bedienender Instrumente meist aus überseeischen Kulturkreisen wurden dabei eingesetzt (Schalen, Metallophon, Kalimba, Fußreifen, Bodhran, Djembe, Guiro, Regenstab, verschiedenste Trommeln), mit denen gegongt, gerasselt, getrommelt, gerüttelt, gezupft und geschrubbt wurde.

Die vier Musiker begleiteten einzeln oder zusammen die Patientinnen, die, wenn sie denn zum Mitmachen bewegt werden konnten, erstaunlich exakt in Rhythmus, Harmonie und Takt einzufallen lernten. Verlauf und Ergebnisse haben die Musiker und die Projektverantwortlichen in Interviews, Protokollen und sogenannten Reflexions-Tagebüchern genauestens festgehalten. Aus ihnen wird in der Studie ausgiebig zitiert und der Leser nimmt somit teil an einem ständigen Auf und Ab der Mentalitäten, Emotionen, Einsichten, Hoffnungen und Enttäuschungen. Denn eines war allen Beteiligten von Anfang an klar: Die Arbeit mit Demenzkranken war hier keine gewöhnliche Musiktherapie – die Patientinnen waren ja nicht mehr zu heilen; aber ihnen sollte dadurch, dass man verloren geglaubte Fähigkeiten in ihnen ansprach, ihre Menschenwürde wieder verdeutlicht werden. Musik, so die Autoren, „kann ein starkes Medium sein, bessere Lebensbedingungen für Menschen zu schaffen, die mit Demenz leben“. Von den Musikern wurde viel verlangt: Sie mussten flexibel sein, bereit und fähig zu unmittelbarer Improvisation, geduldig und lernwillig mit Blick auf die Kranken, um jederzeit auf überraschende Situationen reagieren zu können. Überhaupt ist große Sensibilität für die beteiligten Menschen eine wichtige Voraussetzung; das Buch zeigt in mehreren Passagen, wie warmherzig, ja zum Teil zärtlich gerade die beiden Musikerinnen (Harfe und Cello) mit den Patientinnen umzugehen gelernt haben. Zahlreiche Notenbeispiele lassen für den Leser anhand der leicht umsetzbaren Singstimmen ein Bild des gemeinsamen Musizierens entstehen.

Wenn es so etwas wie eine Zielvorgabe gab, dann wurde sie in vier Schritten angegangen: Zuerst wurde versucht, allen Beteiligten eine Art „Identität“ zu geben, die diese dann auch fühlen sollten. Drauf aufbauend wurde die „Kommunikation“ untereinander vertieft, was, wenn es glückte, zur „Partizipation“ der Patientinnen führte. Verallgemeinernd und über das konkrete Projekt hinausgehend, wurde dann nach der „Entwicklung“ solcher Vorhaben gefragt, etwa ob sie beispielgebend sein könnten für andere Versuche über das Londoner „Labor“ hinaus.

Die Frage, ob Musik helfen kann, die Lebensbedingungen dementer Menschen zu verbessern, bejahen die Autoren vehement: „Das ,Music for Life‘-Projekt gibt uns eine Idee, wie ein ebenso humaner wie kreativer Umgang mit Menschen aussehen könnte, die bis heute am Rande gesellschaftlicher Aufmerksamkeit stehen, in den folgenden Jahrzehnten jedoch ins Zentrum der Sozial- und Gesundheitspolitik rücken werden.“ Leise Bedenken, ob solche Projekte wirklich einen längerfristigen Erfolg bei den Kranken haben, stellt der Leser zurück, angesichts des bewundernswerten Engagements.

Peter Alheit/Kate Page/Rineke Smilde: Musik und Demenz. Das Modellprojekt „Music for Life“ als innovativer Ansatz der Arbeit mit Demenzkranken, Psychosozial-Verlag, Gießen 2015, 312 S., € 29,90, ISBN 978-3-8379-2456-5

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