Dass Geschichte fein säuberlich portioniert daher kommt, ist eine schöne, im Grunde genommen aber doch realitätsferne Vorstellung. Gewiss, es gibt Schwerpunkte, aber eben auch Überlagerungen. Da ist beispielsweise die Erforschung der Emigration der Musiker aus Nazi-Deutschland noch kaum abgeschlossen – da kommt schon die Frage der Remigration dieser Musiker nach 1945 auf uns zu. Verbunden mit den Fragen: Warum kamen diejenigen, die man außer Landes getrieben hatte, ins Land der Täter zurück? Und: Wie hat sie dieses Land aufgenommen? Hat es sie überhaupt aufgenommen oder doch nur (von Ausnahmen, von Galionsfiguren abgesehen) geduldet? – Fragen, denen jetzt eine Studie nachgeht, die mit gut und gern 1.000 Seiten schon im Umfang die Gewichtigkeit dieses Themas an den Tag legt.
Erwachsen aus einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft („Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit“) hat sich Autor Matthias Pasdzierny ausführlich mit den Rückkehrern, den Musiker-Remigranten beschäftigt. Eine Pionierarbeit, soviel steht fest.
„Die Weihe des Hauses“ musste es schon sein, Beethovens multifunktional verwendbare Theatereröffnungsmusik, womit im September 1959 auch die neu errichtete Bonner Beethovenhalle ihrer Bestimmung übergeben wurde. Theodor Heuss, der aus diesem Anlass seine letzte Rede als Bundespräsident zu halten hatte – eine noch heute lesbare Übung in Pathos-und-Phrasenvermeidung – war ausgesprochen froh, im Angesicht der „geehrten, festlichen Versammlung“ einen Bündnispartner an der Seite zu haben, der ihm die Last des aufgetragenen Besinnungsaufsatzes „Beethoven und …“ abnehmen konnte. „Ich finde es schön“, so Heuss, „dass die wahre Huldigung für den Genius in die meisterliche Hand von Paul Hindemith gelegt worden ist; er wird ihr Kraft, Zartheit und Glanz geben.“ Nach erfolgtem Festakt kommt es zur Begegnung der beiden. Heuss reicht dem freudestrahlenden, einen Kopf kleineren Hindemith die Rechte und legt ihm die Linke auf die Schulter. Ein Moment, in dem ein gut positionierter Pressefotograf auf den Auslöser drückt: Staatspräsident begrüßt Komponisten. Und zwar (so viel war jedem der Anwesenden klar) den Komponisten der Oper „Mathis der Maler“, deren Aufführungsboykott Wilhelm Furtwängler zum Rücktritt von seinen Ämtern bewogen und Hindemith selber zum prominentesten Musiker-Exilanten des NS gemacht hatte. „Schön, dass wir Dich wiederhaben!“
Jetzt ist auch das Foto dazu wiederaufgetaucht. Genial dieser Riecher des Verlagslektorats edition text+kritik, mit eben diesem jovial-schulterklopfenden Heuss eine Eintausend-Seiten-Publikation aufzumachen, die die historische Dimension der darin liegenden Begrüßung in ihrer ganzen Breite, Tiefe, aber eben auch Abgrundtiefe auslotet, sie überhaupt erstmals angemessen dokumentiert. Siehe allein den 200-seitigen Anhang mit 260 Kurzbiografien (rund 15 Prozent der während des NS-Regimes Ausgewanderten) – ein von A wie Paul Abraham bis Z wie Eduard Zuckmayer reichendes kleines Lexikon der Musiker-Remigration, ein Serviceteil, der hier gesondert hervorzuheben ist.
Andererseits: Natürlich ist Autor Pasdzierny die Zweideutigkeit, mit der man den Remigranten begegnete, nur allzu bewusst. In jahrelanger Recherche in den einschlägigen Archiven hat er sie immer wieder bestätigt gefunden: die Schein- und Halbherzigkeit, die Gleichgültigkeit und eben auch die Feindseligkeit, weswegen er seiner Studie ein Fragezeichen mit auf den Weg gibt: „Wiederaufnahme?“
Tatsächlich sind es diese ungläubig hochgezogenen Augenbrauen, die man als Unterton in der abfotografier-ten Heuss-Begrüßung sieht und auch sonst immer mitliest, wenn Pasdzierny den Hallraum der Adenauerrepublik, die im Prinzip seinen Untersuchungszeitraum umfasst, befragt, wenn er in diesen hineinfragt, in diese zwischen alter Verstocktheit und neuer Offenheit schwankenden Republik. „Wiederaufnahme?“ Der Autor lauscht aufs Echo – nur, um Gründe über Gründe, Belege über Belege zu finden, ernüchtert abzuwinken. Ernst gemeint war es eben letztlich nicht mit der „Wiederaufnahme“. Das Begriffspaar, unter dem Pasdzierny die Zeit resümiert, lautet denn auch so: „Zwischen Projektion und Abwehr“.
Gewiss dreht und wendet Pasdzierny jedes ihm zur Verfügung stehende Archivblatt, um auch dies uns zeigen zu können: jene tatsächlich um Versöhnung bemühten Staatsvertreter, diejenigen, die aus eigener Verantwortung initiativ wurden, um die große Zahl der exilierten, emigrierten Musiker zurückzuholen, sie einzuladen, zurückzukommen. Dieter Sattler etwa ist so ein Fall. Schon im Frühjahr 1947 machte der damalige Staatssekretär im Bayerischen Kultusministerium seinen Plan „Das andere Deutschland“ öffentlich. Ein groß angelegtes Veranstaltungsprogramm, das neben Prominenten wie Bruno Walter, Fritz Busch, Otto Klemperer, Paul Hindemith, Erich Kleiber, Ernst Krenek auch weniger prominente Musiker und (man beachte) Musikerinnen wie Erika Morini, Käthe Aschaffenburg, Siegrid Onégin, Sabine Kalter namentlich erwähnte. Namen, die uns auch heute noch wenig bis nichts sagen.
Abgesehen von den Galionsfiguren, die man ins Schaufenster stellen konnte, wurde, was es an guten Absichten gab, im Mahlwerk der Verwaltung zerrieben. Das Vorhaben, vermerkt Pasdzierny, „versandete“, um letztlich einzugehen ins Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration, was einerseits verdienstvoll gewesen ist, andererseits einer Realsatire mit bitterem Beigeschmack gleichkam. „Das Erstellen von Namenslisten und Sammeln von Lebensläufen“, resümiert Pasdzierny, „die Kartografie des kulturellen Verlusts fungierten als Surrogat für eine tatsächliche Reintegration, für eine Rückholung der Personen.“ – Ausgangspunkt letztlich für den Neuansatz der Exilforschung der 80er-/90er-Jahre.
Es ist eine beeindruckende Dokumentation, die Matthias Pasdzierny zur Musiker-Remigration und zum westdeutschen Musikleben nach 1945 vorgelegt hat, auch wenn es etwas Anachronistisches hat, dass eben nur die westdeutschen Musiker-Remigranten (minus Westberlin, minus DDR) im Fokus stehen. Der Folgeband drängt sich so gesehen geradezu auf. Beeindruckend gleichwohl die Fülle der Information – Resultat vor allem des großen Methodenschwungrades, an dem Pasdzierny dreht: Mentalitäts-, Struktur-, Institutionen-, Biografiegeschichte. Allein letztere liefert ein halbes Dutzend Fallstudien, darunter so ganz und gar unbekannte Exil-Biographien wie die von Richard Engelbrecht, der die Anfänge der heutigen Musikakademie Schloss Weikersheim gelegt hat, was, wie Pasdzierny nachweist, selbst in Weikersheim nicht mehr bekannt ist.
Fazit: Auch wenn es mit der „Wiederaufnahme“ nicht so richtig geklappt hat, für Wiederaufnahmeverfahren gibt es keine Verjährung.
Matthias Pasdzierny: Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945 (= Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2014, 983 S., Abb., E 69,00, ISBN 978-3-86916-328-4