Einmal ein Musikstück von Brahms oder Liszt so erleben, wie es im 19. Jahrhundert die Zeitgenossen gehört haben mussten – das wäre etwas! Nun gibt es zwar keine Zeitmaschine, um uns in diese Zeit zu bugsieren, dafür aber eine neu erschienene Studie über die Musikkritiken im Dresdner Feuilleton 1864 bis 1889. Theresa Henkel widmete sich in ihrer Dissertation den Texten des Musikschriftstellers und seinerzeit geschätzten, heute aber weitgehend vergessenen Liederkomponisten Carl Banck (1809–1889). Damit setzt sie Grundsteine für die Erforschung der Musikrezeption in den deutschen Tageszeitungen und zeigt, wie wichtig das musikalische Feuilleton in der Mediation zeitgenössischer Diskurse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Für den Leser ist dies eine Gelegenheit, in die spannende Gedanken- und Erlebniswelt eines Zeitgenossen von Richard Wagner einzutauchen.
Die Rezeptionsforschung ist seit vielen Jahren schon auf die Musikkritiken der sich entwickelnden Zeitungs- und der damit einhergehenden Rezensionskultur jener Zeiten angewiesen. Dabei sind die Aktivitäten Robert Schumanns in der Neuen Zeitschrift für Musik (ab 1834) weithin bekannt und rezipiert. Auch die Allgemeine musikalische Zeitung, die mit Unterbrechung von 1798 bis 1882 erschien, fand in der musikwissenschaftlichen Forschung früh Beachtung. Doch das Feuilleton der Tageszeitungen wurde im Unterschied zu den bekannten Fachzeitschriften bislang ausgeklammert, was darin begründet liegt, dass diese Blätter erst spät digitalisiert vorlagen und damit erst jetzt „gescreent“ werden können. Theresa Henkel füllt diese Forschungslücke nun und hat sich für diesen Zweck eine fast vergessene Persönlichkeit aus dem Dresdner Musikleben herausgesucht, an dessen Beispiel sie die Rolle des Feuilletons eruiert: Carl Ludwig Albert Banck.
Carl Banck war ein umtriebiger Mann. Nicht nur komponierte er zahlreiche (kleinere) Stücke und Lieder, traf sich mit dem Who’s Who der Musikwelt, pflegte Kontakt zu Schumann und den Wiecks, er übte sich auch als Verleger von Musikstücken, reiste weit nach Italien und in die USA und war dazu ab 1846 im Dresdner Tageblatt, später Dresdner Journal für die Musikkritik zuständig. Und die hatte es in sich, besonders, wenn sie Franz Liszt betraf, dessen Werke er schon mal als „Mache“ deklassierte, denen er ein „Mangel echt schöpferischer und formschön gestaltender Kraft und Erfindung“ attestierte. Dass die Werke Liszts heute zum Kernrepertoire gehören – das hätte Banck nicht für möglich gehalten. Generell stand der geborene Magdeburger neuen Werken eher skeptisch gegenüber, zeigte aber im Gros seiner Kritiken eine wertschätzende Haltung im Gegensatz zu seinen Kollegen in den Fachzeitschriften. Theresa Henkel hat sämtliche Veröffentlichungen Carl Bancks durchforstet und stellt seine Ansichten, ästhetischen Positionen und Stellungnahmen zu Beethoven, Clara Schumann, Hector Berlioz oder auch bestimmten musikalischen Fragestellungen übersichtlich in einzelnen Kapiteln vor. Wie jemand Brahms’ Symphonien hörte, als die Tinte quasi gerade erst getrocknet war, ist äußerst spannend zu lesen und eine Fundgrube für weitere Studien.
Weitreichender und für die Forschung interessanter noch sind die diskursanalytischen Schlussfolgerungen, die sich aus der Sichtung des Quellenmaterials ergeben. In vergleichenden Analysen zeigt Henkel, dass Banck im sächsischen Raum für die Verbreitung musiktheoretischer Positionen, zuvorderst denen von Adolph Bernhard Marx, maßgeblich verantwortlich war. Dessen metaphorisch-blumige Beschreibungen der „titanischen“ 9. Symphonie Beethovens „voll unausschöpflicher Wehmut […] und unendlicher Erinnerung“ übernimmt Banck sogar nahezu wortgleich. Und auch an der Verbreitung von Eduard Hanslicks Begriff vom „Kunst-Schönen“ und der „tönend bewegten Form“ war Banck beteiligt, weshalb Henkel ihn als „Multiplikator“ für wissenschaftlich-ästhetische Literatur beschreibt.
Eine weitere Perspektive von Henkels Forschungen ist die Arbeitsweise in den Tageszeitungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese hochprofessionalisierten Unternehmen hatten im Wesentlichen dieselben Probleme wie die Journale der heutigen Zeit: Sie mussten Zeilen, Seiten, Hefte füllen, in kürzester Zeit und immer aktuell. Henkel fand heraus, dass Banck hemmungslos abschrieb – aber von sich selbst. Der Journalist muss ein Archiv eigener Rezensionen besessen haben, aus denen er sich bediente. Das ging schnell und transportierte vor allem eine konstante Positionierung im musikästhetischen Diskurs.
Theresa Henkels Buch ist wahrscheinlich keine ideale Bettlektüre, wenn auch alles andere als trocken geschrieben. Aber die Dissertation, entstanden an der Universität Regensburg bei Prof. Katelijne Schiltz, vermittelt Verständnis für die Musikkritik jener Zeit.
Henkel gebührt das Verdienst, sich als nahezu Einzige dem fast vergessenen Carl Banck gewidmet zu haben, sie verfasste auch den Artikel zu Banck in der MGG Online. Ob Banck nach dieser „Beleuchtung“ wieder zurück in den Schatten der Vergessenheit treten wird, oder ob man bereits sein Comeback feiern kann, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall eine Lektüre, die zum Nachdenken über die Zunft der Musikkritik einlädt.
- Theresa Henkel: Carl Banck und die Musikkritik in Dresden 1846–1889 (Regensburger Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 16, ConBrio, Regensburg 2021, 313 S., Abb., € 35,00, ISBN 978-3-940768-97-1