Martin Rempe ist ein Historiker, der über Musik schreibt. In diesem Sinne repräsentiert er das zunehmende Interesse seiner Zunft am Klang der Zeitgeschichte. Das reizvolle Wortspiel im Untertitel seiner Habilitationsschrift „Kunst, Spiel, Arbeit“ ist vielversprechend: „Musikerleben in Deutschland“, womit der Autor sowohl den Akteur (‚Musiker‘), als auch die Erfahrung (‚Erleben‘) in Stellung bringt.
Der von 1850 bis 1960 gewählte Zeitrahmen umfasst die deutsche Musikentwicklung von der Romantik bis in die (Post-)Moderne. Im Fokus steht dabei allerdings weniger das ästhetische ‚Erleben‘ von Musik als ‚Kunst‘, also dem ersten der drei titelgebenden Schlagwörter. Und auch der mit Laienmusizieren oder aber theoretisch assoziierte Begriff des ‚Spiels‘ schwingt eher implizit mit. Im Zentrum der Studie stehen vielmehr sozialhistorische Rahmenbedingungen im Leben von Berufsmusikern und damit das dritte der titelgebenden Motive. Der Faktor (kreative) ‚Arbeit‘ findet sich ausführlich behandelt in allen drei übergeordneten Sektionen, die insgesamt elf Kapitel auf 400 Seiten umfassen: „Lebenswelten im 19. Jahrhundert“ (I), „Projekte der Professionalisierung, 1890–1930“ (II), und „Krise, Kollaps, Kontinuitäten, 1930–1960“ (III).
Obwohl Musik den Gegenstand der Untersuchung bildet, bewegt sich die Studie also überwiegend in klassischen Themenfeldern der Zeitgeschichte: Bürgertum und Institutionen, Kriege und Migrationsbewegungen. Das Ergebnis ist eine anregend geschriebene, mit spannenden Archivfunden und wertvoller Quellenarbeit angereicherte Arbeit – die allerdings infolge des (zu) breiten Ansatzes und einer Tendenz zur Theoriefeindlichkeit die Gelegenheit verpasst, die im Gegenstand angelegte interdisziplinäre Öffnung konsequent zu verfolgen und die Ergebnisse damit auch für andere Fächer anschlussfähig und fruchtbar zu machen.
Das zeigt sich etwa in Kapitel 4 „In einer anderen Welt: Frauen im Musikleben“, wo es der Autor verpasst, aktuelle Forschungen etwa aus den Gender Studies oder der Frauenmusikforschung ernsthaft miteinzubeziehen: Zwar macht Rempe im Kapitel ‚Rollenbilder‘ die richtige wie wichtige Feststellung, dass „Geschlechtervorstellungen […] ein beträchtliches Machtpotential zur Absicherung patriarchaler Herrschaft“ innewohnt; allerdings greift die Bemerkung, dass diese „im Lauf des 19. Jahrhunderts festgelegt“ wurden und bis „weit in das darauffolgende hinein» wirksam waren, zu kurz: Tatsächlich ist das Musik(er)leben bis heute überwiegend männlich geprägt, und das auch durch Konventionen innerhalb der (Musik-)Geschichtsschreibung. Insofern ist Rempes auf Archivmaterial fußende Nachzeichnung von „Vier Lebenswege[n]“ bürgerlicher Musikerinnen in quellenkritischer Hinsicht wertvoll, die Schlüsse jedoch sind pauschal: „Während die Solokarriere so unerreichbar und selten war wie das Klavierlehrerinnendasein naheliegend und häufig, darf der Hafen der Ehe als sicheres Karriereende ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie das berufliche Musizieren am Rande und außerhalb bürgerlicher Konventionen».
Ähnliche Verkürzungen zeigen sich auch im „Zeit der Experimente“ überschriebenen Kapitel 8 „Neue Medien, Moden und Musiker“. Auch wenn die Studie auf die Breite des Musikerlebens im sozialen Kontext konzentriert ist, markiert die nahezu totale Auslassung von Komponisten und Schauplätzen der Avantgarde eine tendenzöse Leerstelle: Die Ausklammerung der unter dem (freilich schwierigen) Begriff der Neuen Musik subsumierten Institutionen wie Donaueschingen oder Innovationen wie Dodekaphonie, Serialismus und Elektronik, prägten das ‚Musik(er)leben‘ wenigstens in der Hälfte des Untersuchungsrahmens zumindest mit. Selbst und gerade mit sozialhistorischer Perspektive darf der schleichende Abschied der ‚Musik der Zeit‘ von einer breiten Öffentlichkeit nicht verschwiegen werden, zumal hier mit Theodor W. Adorno ein diskursstarker wie musikaffiner Sozialkritiker als Gewährsmann für theoretische und ästhetische Anschlussfelder bereitsteht.
Wenn Rempe durchaus auf Jazz und die „Verselbstständigung der U-Musik“ zu sprechen kommt, wird seine Blindheit gegenüber der Avantgarde umso unverständlicher, auch mit Blick auf die im Kapiteltitel apostrophierten ‚Neuen Medien‘: Die Medialisierung des Musik(er)lebens wird hier mit Reflexionen zum Rundfunk als „Spielwiese für Dirigenten und Komponisten“ auf gerade einmal sieben Seiten abgehandelt. Die nicht nur ästhetisch folgenreichen medientechnischen Entwicklungen werden außer Acht gelassen und auch historisch aufschlussreiche Gallionsfiguren wie Karlheinz Stockhausen nicht einmal im Personenverzeichnis genannt. Schließlich verpasst Martin Rempe so die Gelegenheit, den Einfluss und die Potentiale von Speicher- und Reproduktionsmedien für die historiographische Forschung nutzbar zu machen: Solche akustischen Quellen hätten das zunehmende Interesse seiner Historikerzunft am Klang der Zeitgeschichte auf materielle Füße stellen können.
- Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 235), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, 400 S., Abb., € 60,00, ISBN: 978-3-525-35250-2