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Der Anfang der Moderne

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„Lexikon der Musik der Renaissance“ – auch für Nichtspezialisten
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Lexikon der Musik der Renaissance (Handbuch der Musik der Renaissance, Bd. 6), hrsg. von Elisabeth Schmierer. Laaber 2012, 2 Bde, 701 u. 704 S., je € 128, Abb., Notenbsp., ISBN 978-3-89007-706-2

Ist Monteverdi ein Komponist der Renaissance oder des Barock? Es ist eine alte Streitfrage, und sie lässt sich auch nicht mit der Zweiteilung in einen frühen und einen späten Monteverdi beantworten. Indem der Autor des entsprechenden Personenartikels im „Lexikon der Musik der Renaissance“ mit einigem Recht verlangt, man müsse seine Kunst als Kunst verstehen und nicht bloß als historisches Übergangsphänomen einstufen, umgeht er die Frage elegant. Das Detail beleuchtet die Schwierigkeit jeglicher Einteilung der Geschichte in Epochen, und das gilt auch für die Renaissance.

Ihr zeitlicher Rahmen wird rückblickend mit dem 15. und 16. Jahrhundert umrissen, und daran hält sich im großen Ganzen auch das von Elisabeth Schmierer herausgegebene Lexikon, das zwei Bände und stattliche 1.400 Seiten umfasst. Es ist Teil eines „Handbuchs der Musik der Renaissance“, dessen insgesamt sechs Bände die Themenbereiche Allgemeine Musikgeschichte, Lehre und Praxis, Schrift und Klang, Musikleben sowie die Stellung der Musik in Zeit- und Kulturgeschichte abdecken.

Auch im Lexikon wird der Stoff in einen weiten kulturhistorischen und Zeithorizont eingebettet. Was die zeitliche Ausdehnung angeht, so findet man unter den mehr als 1.100 Artikeln eben auch Monteverdi als Schöpfer der Barockoper und auf der anderen Seite, sozusagen als Vorahnung kommender Entwicklungen, die Ars Nova des 14. Jahrhunderts mit Philippe de Vitry und Machaut. Innerhalb der Epoche werden die Querverbindungen zu anderen Kunstdisziplinen, zu Gesellschaft und Politik sichtbar gemacht, die hier erstmals in der für die Neuzeit charakteristischen Weise in Erscheinung treten. Ein zufälliger Blick auf Buchstabe M zeigt: Musikwissenschaftliche Spezialthemen wie Mensuralnotation und Musica ficta, ausführliche Artikel zur Gattungsgeschichte von Madrigal, Messe und Motette stehen neben Stichwörtern wie Machiavelli, Mäzenatentum (leider zu kurz geraten), Moralphilosophie und Thomas Müntzer.

Ausführlich werden Maler wie Tizian oder Giorgione besprochen, deren Bild-Allegorien wichtige Rückschlüsse auf die musikalischen Auffassungen der Epoche ermöglichen. Der Schriftsteller Giorgio Vasari wird als Autor vorgestellt, der mit seinen Künstlermonografien dem modernen Begriff des schöpferischen Individuums zum Durchbruch verholfen hat. Ein derartiges Schrifttum gab es, woran das Vorwort erinnert, im Bereich der Musik nicht, so dass bis heute erhebliche Wissenslücken zum Leben und Schaffensprozess der damaligen Komponisten existieren.

Umso interessierter nimmt man deshalb im Artikel über Gesualdo di Venosa die biografischen Bruchstücke zur Kenntnis, wohingegen die rezeptionsgeschichtliche Bemerkung, Salvatore Sciarrino habe durch „seinen missverständlichen Blick auf Gesualdo“ nichts zur „Entmystifizierung“ der Kompositionsweise Gesualdos beigetragen, selbst einem Missverständnis aufsitzt: Es ist nicht Aufgabe des Künstlers, musikwissenschaftliche Aufklärungsarbeit zu leisten.

In solchen Momenten werden die Bezüge der scheinbar fernen Epoche zu unserer Gegenwart explizit verdeutlicht. Sie sind aber auch unausgesprochen stets vorhanden. Von den „cori spezzati“, den geteilten Chören im Venedig des 16. Jahrhunderts, hat zum Beispiel auch Nono gerne gesprochen, und der auf die Antike zurückgehende Arkadien- und Orpheus-Topos der Renaissance findet sich wieder bei Strawinsky und Henze. Von der erneuten Aktualität nicht nur Gesualdos, sondern auch Josquins oder Leonardos nicht zu reden. Die Renaissance ist ein unabgeschlossenes Projekt.

Die nach Stichworten geordnete Darstellung eines Stoffs, der in seiner ungeheuren Vielfalt und seinem Beziehungsreichtum kaum zu fassen ist, mag fragmentarisch wirken. Doch gerade in diesem Puzzlecharakter liegt ein großer Reiz. Weit über die Spezialistenzirkel hinaus bietet das Lexikon auch dem allgemein kulturgeschichtlich interessierten Leser und dem praktischen Musiker zahllose Anregungen. Von Vorteil ist dabei, dass die Autoren – jeder Artikel ist namentlich gekennzeichnet – sich bemühen, den papiernen Spezialistenjargon zu vermeiden, was auch häufig gelingt.

Unstimmigkeiten gibt es natürlich auch, etwa wenn der Artikel zu Gesualdo alphabetisch falsch eingeordnet ist oder Ferrara darin aus der Nordlicht-Perspektive als „Stadt im Süden Italiens“ bezeichnet wird; und kaum zu finden sind – im Gegensatz zum geistlichen Drama – theatralische Formen der populären Kultur wie die Commedia dell’arte. Doch solche Einwände schmälern nicht den Wert des Lexikons als eine Fundgrube an Wissen über eine Epoche, von der unsere Moderne den Ausgang nahm.

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