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Lexikon der Musik des Barock (Handbuch der Musik des Barock, Bd. ,8 Laaber Verlag, Lilienthal 2024

Lexikon der Musik des Barock (Handbuch der Musik des Barock, Bd. ,8 Laaber Verlag, Lilienthal 2024

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Der geleerte Himmel

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Das Lexikon der Musik des Barock und die Aktualität der Epoche
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Lexikon der Musik des Barock (Handbuch der Musik des Barock, Bd. 8), hrsg. von Siegbert Rampe/Elisabeth Schmierer, Laaber Verlag, Lilienthal 2024, 2 Bde., 1.440 S., € 258,00, ISBN 978-3-89007-878-6

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Kaum zwei Generationen ist es her, dass Barockmusik, bis auf Liebhaberveranstaltungen, beinahe ausschließlich um Weihnachten und Ostern herum erklang – mal abgesehen von der „Feuerwerksmusik“ und den „Vier Jahreszeiten“. Als dann die Nachfolger von August Wenzinger, Franzjosef Meier und anderen anfingen, durchgängig das zu praktizieren, was man Alte Musik und später „Historisch informierte Aufführungspraxis“ nannte, begann die Musik der (nach der Renaissance) zweiten neuzeitlichen Epoche saisonunabhängig ins allgemeine Konzertleben einzudringen. Seitdem ist eine Fülle von Ensembles, Konzertreihen und Festivals, die der Barockmusik gewidmet sind, ins Kraut geschossen, und allmählich ist mit „Barock“ ein Label entstanden, das dank Kulturmarketing erfolgversprechend vermittelbar ist. Reicht manchmal auch ein Talglicht im schlossähnlichen Ambiente aus, so muss oftmals dann doch ein Altist oder eine Altistin mit Römerhelm und Federbusch her – oder gleich ein König, der tanzt.

Nebulöses Feld: Barockmusik

Allerdings liest niemand mehr Calderón, Grimmelshausen, Gryphius oder Racine, niemand mehr richtet sich nach regional unterschiedlichen Maßeinheiten, geschweige denn folgt dem einst unumstößlichen Gottesgnadentum von Souveränen oder den zeitgenössischen Kirchenlehren. Die Nähe zu der auf ganz anderem Wissen und Glauben beruhenden Realität von 1600 bis 1750 ist gleichermaßen Einbildung wie ein nachgebautes Stadtschloss.

Was derart sinnliche Reize bereitet, ist so fern wie all die Riten und Konventionen des Barock, dessen Rhetorik, Emblematik und Affektlehren. Die Zeichen jener Zeit sind uns leere Zeichen.

Solcher Verblendungszusammenhang indessen gestattet es auszublenden, wie nahe das Barock uns tatsächlich ist – oder vielmehr wir ihm. Nicht nur bezüglich Machtpolitik und Glaubenskriegen etwa, sondern in dem, was Robert Musil einst so elegant wie einfach beschrieb als „Ersetzung der unmessbaren Wirkung von Größe durch die messbare Größe von Wirkung“. Von Planetenbewegungen bis zu Schwingungen von Saiten: Mit Descartes, Newton, Leibniz, Huygens, Mersenne und Kollegen hebt die allmähliche Umformatierung von Schöpfung in Zahlenwerk an, an deren digitalem Ende wir nun angekommen sind. Buchstäblich alles auf Himmel und Erden wird bemessen und bewertet, und es bleibt nichts übrig.

Walter Benjamin hat bemerkt, wie in einem epochenspezifischen „horror vacui“ dies- wie jenseits leergefegt wird, um all die Dinge von Muscheln bis Gott in exaltierter Form üppig zur Darstellung zu bringen. Diese barocke Pracht ergibt im Umkehrschluss allerdings einen kalten wertelosen Äther, nach Benjamins fulminantem Bild den „Himmel als Vakuum“, in welchen die Erde schließlich nur noch implodieren kann. So viel zur barocken Gegenwart oder ihren Wertedebatten.

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Lexikon der Musik des Barock (Handbuch der Musik des Barock, Bd. ,8 Laaber Verlag, Lilienthal 2024

Lexikon der Musik des Barock (Handbuch der Musik des Barock, Bd. ,8 Laaber Verlag, Lilienthal 2024

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Ausdifferenziert mit guter Lesbarkeit

Just nun hat der in Musikdingen überaus verdienstvolle Laaber Verlag ein Vorhaben so gut wie beendet, das selber epochale Ausmaße besitzt: Mit dem jüngst erschienenen Lexikon ist das insgesamt zehnbändige Handbuch der Musik des Barock abgeschlossen; im Sommer folgt dann nur noch der Band zur weltlichen Vokalmusik. In zwei Teilbänden mit über 1.400 Seiten und 1.100 Stichworten krönt das Lexikon die bereits erschienenen, historisch darstellenden Handbücher zur geistlichen Vokalmusik und zur Instrumentalmusik, zur Sozial- und Kulturgeschichte der Barockmusik, zur Kompositions- und zur Aufführungspraxis quasi als ein übervolles Sachverzeichnis.

Zugleich aber fungiert es auch als ein unabhängiges Nachschlagewerk, das zu einem angemessenen Preis sowie nach aktuellem Wissensstand alle Interessierten ebenso breitgefächert wie tiefschürfend in die Musik des Zeitalters einführt und damit in eines seiner hervorstechendsten Ausdrucksmittel. Dabei beschränkt es sich selbstredend nicht nur auf Personen (Komponisten, Musiker, Literaten, Wissenschaftler, Regenten und dergleichen), Begriffe, Sachen und Theorien; es nimmt auch seinerzeit wichtige Städte und Regionen gleichermaßen in den Blick, genau wie relevante historische, kulturelle und religiöse Phänomene der Zeit. Ein tatsächlich übervolles, aber nicht ausuferndes Panorama der Barockmusik.

Dass es nutzerfreundlich bleibt, dafür sorgen ein pointierter Umgang mit Quellen und der Sekundärliteratur im Sinne der Überschaubarkeit sowie ein Verzicht auf Verweise und Abkürzungen, die die Gattung Lexikon üblicherweise unübersichtlich machen. Weiterhin ziert alle Artikel eine fachlich angenehme Lesbarkeit. Den Autoren liegt mehr an sinnvollen Zusammenhängen und schlüssiger Veranschaulichung als nur an einer chronologischen Auflistung von Fakten.

Da solch eher essayistisches Schreiben durchaus mit Wertungen einhergeht, ist gerechtfertigt, dass die 85 Autoren ihre jeweiligen Artikel nicht mit den üblichen Kürzeln, sondern mit vollem Namen zeichnen. Dabei geht es hier keineswegs um Werturteile, wie sie in Lexika vergangener Zeiten reihum gefällt wurden, als vielmehr um ein Engagement, den Gegenstand nachdrücklich der Aufmerksamkeit anzuempfehlen. Eindrucksvoll ist dabei die Rolle Siegbert Rampes, Mitherausgeber und spiritus rector der Gesamtreihe, der für beinahe die Hälfte der Lexikonartikel verantwortlich zeichnet. Chapeau! Hut ab aber auch für den verlegerischen Mut bei diesem Großunternehmen, das die Ferne der Barockmusik nachvollziehbar macht, indem es deren Nähe in aller Komplexität differenzieren lässt.

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