Richard Newman, Karen Kirtley: Alma Rosé, Wien 1906 - Auschwitz 1944, Weidle Verlag 2003, 480 S., Abb., € 34,-
Sie war die hoch begabte emanzipierte Tochter von Arnold Rosé, dem Leiter des weltberühmten Rosé-Quartetts, und die Nichte von Gustav Mahler: die Violin-Virtuosin Alma Rosé. „Sie war streng, gerecht, niemals unterwürfig und unbeirrbar.“ So beschreibt sie eine, die sie in den vierziger Jahren als Dirigentin noch kennen gelernt hat: die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch. Und sie fügt hinzu: „Ohne sie hätte niemand von uns überlebt.“ In einem besonders merkwürdigen Kapitel deutscher Musikgeschichte hatten sich ihre Wege gekreuzt: Alma Rosé war die Leiterin des sogenannten „Mädchenorchesters“ von Auschwitz-Birkenau gewesen.
60 Jahre „after the event“ erinnert sich Lasker-Wallfisch an ihre erste Begegnung mit Alma Rosé: „Als ich Alma zum erstenmal gegenüberstand, war ich nackt, kahlgeschoren, und meine Identität war die tätowierte Nummer auf meinem Arm. Sie selbst sah durchaus „normal’ aus… Sie stellte sich vor, und ich wusste, wer sie war und wer Gustav Mahler war, aber
ich glaube nicht, dass mich dies besonders beeindruckt hat. Dort waren die Spielregeln anders. Der Horizont war die Gaskammer. Jeder war in seine eigene Misère verstrickt. Gefühle waren der Luxus, den man sich in der ,normalen‘ Welt erlauben kann, und Gustav Mahler gehörte zu dieser Welt. Wir gehörten nicht mehr dazu.“
Der kanadische Musikkritiker Richard Newman hat Alma Rosés durch und durch musikalisches Vor-Leben in der „normalen“ Welt akribisch rekonstruiert, basierend auf der Korrespondenz der Familien Mahler und Rosé. In dieser Welt von Musik und Macht spielte ein anderer Zeitgenosse beiläufig seine ganz eigene Rolle, wie Newman erzählt: „In Almas Geburtsjahr 1906, dem letzten Jahr der Ära Mahler in Wien, faszinierten die prunkvollen Bauwerke der Reichshauptstadt und Mahlers künstlerisches Ringen um die Werke Wagners auch einen 16-jährigen Besucher aus Linz. Man konnte ihn häufig im Stehparterre der Hofoper sehen. Sein Name war Adolf Hitler: ein orientierungsloser junger Mann auf seinem ersten, zweimonatigen Besuch in Wien, wo er sich als bildender Künstler zu etablieren trachtete… In den von Hitler in den folgenden Jahren häufig besuchten ,Tristan‘-Aufführungen konnte er im dritten Akt gewöhnlich Konzertmeister Arnold Rosés bezauberndes Violinsolo hören.“ 1940 wird ein Nazi-Kumpane Hitlers, Dr. Herbert Gerigk, Gustav Mahler und Arnold & Alma Rosé auf eine sehr eigene Weise würdigen, im „Lexikon der Juden in der Musik“. Es klingt bizarr, aber fast die ganze Personnage dieses Lebensromans findet sich dort wieder: eines Romans, der so leichtfüßig begann in der „guten musikalischen Kinderstube“ in der Wiener Pyrkergasse.
1932 gründete Alma Rosé ihr eigenes Orchester „Wiener Walzermädeln“. Das Repertoire bestand aus den Gassenhauern der gehobenen Unterhaltungsmusik: „Wiener Blut“, „Wien, Stadt meiner Träume“ oder „Geschichten aus dem Wienerwald“. Mit ihren „Mädeln“ zog Alma durch ganz Europa.
Dabei war es nicht leicht, ein Walzermädel zu sein, besonders wenn sie Teil eines Varieté-Programms waren, wie sich Caroline Rostal erinnert: „Ich hatte die schwierige dritte Geigenstimme, die sich ganz allein, in Harmonie und doch in Gegenbewegung zu den anderen Streichern bewegte. Es war wie Kammermusik. Gleichzeitig mußten wir Teil einer Choreographie werden, die sich auf die Musik bezog, sich mit ihr bewegte. Bei unserem Engagement im Apollo wurden wir mittags geschminkt und kostümiert und mussten hinter der Bühne oder in unserer Garderobe fast den ganzen Tag lang warten, bis im Show-Programm die Reihe an uns kam.“
Nach dem „Anschluss“ emigrierte die Rosé-Familie nach London. Weil Alma Rosé dort aber keine Arbeitsmöglichkeiten fand, nahm sie Ende 1939 ein Engagement in Holland an. Als die Deutschen im Mai 1940 Holland besetzt hatten, saß sie in der Falle. Im Dezember 1942 versuchte Alma Rosé zu fliehen, doch sie wurde festgenommen. In Auschwitz-Birkenau führte sie schließlich mit viel Perfektionismus und Strenge eine Ersatzexistenz: als „Chefin“ des „Mädchenorchesters“. Anita Lasker-Wallfisch im Rückblick auf diese Zeit, die mit dem Tode Alma Rosés im April 1944 endete: „Ich bin mir nicht darüber im Klaren, ob Alma mit ihrer Härte irgendwelche Absichten verfolgt hat oder ob sie rein instinktiv handelte. Eines aber weiß ich: Mit der eisernen Disziplin, die sie uns aufzwang, gelang es ihr, uns von dem abzulenken, was um uns im Lager geschah – von den rauchenden Schornsteinen und dem Elend des Lageralltags zu einem ;f‘, das hätte ein ;fis‘ sein sollen.
Vielleicht war dies für sie selbst die einzige Möglichkeit, nicht den Verstand zu verlieren. Sie zog uns alle in den Bann ihres Wahns, aus dem Repertoire, das wir spielten, etwas Perfektes zu machen – und gerade damit half sie uns, dass auch wir nicht den Verstand verloren.“ Sie sei von Mahlers Geist besessen gewesen, hatte ihr Vater über Alma gesagt.