Kurz vorm Debut des Arditti-Quartetts in Witten läuft dem Geiger Irvine Arditti im Koffer eine Whiskyflasche vom Duty-Free-Shop aus, was die brandneuen Autographe zweier Streichquartette von Ligeti in Mitleidenschaft zieht. Aber Arditti gelingt dennoch die Entzifferung der Noten, nachdem er die Blätter auf dem Rasen trocknen ließ.
Man steht über solchen Dingen in Witten. Wer hier solch lässiges Understatement erlebt, weiß, warum bei den „Wittener Tagen für neue Kammermusik“ das „neu“ klein geschrieben wird. Innovation, ja Revolution geht hier auf harte Arbeit zurück. Es braucht keine Hochglanzoberfläche, wenn in der verschlafenen Stadt am Nordrand des Ruhrgebiets eine internationale Künstler- und Zuhörerschar gemeinsam der Faszination Musik erliegt.
Die ganze ästhetische Gegenwart mit ihren Konfrontationen und Diskursen, die regelmäßig zum Frühlingsanfang hier in der Luft liegt, scheint zuweilen den Blick auf das historisch gewachsene Ganze zu verstellen.
Doch jetzt ist Abhilfe da: Harry Vogt und Frank Hilberg dokumentieren in ihrer aktuellen Festschrift, wie sich der „Kammerton der Gegenwart“ – so der Buchtitel – über viele Jahrzehnte hinweg immer mehr Gehör verschaffen konnte. Gleich eine ganze Autorenschar beschert in dieser Gesamtschau des Kosmos „Witten“ inklusive dem allzumenschlichen Geschehen hinter den Kulissen eine erfrischende Meinungs-Pluralität.
Michael Struck-Schloen verweist zum Beispiel auf die lebendige Kommunikation zwischen Komponisten und Interpreten. Mit produktiver Nähe antwortet man hier auf alle erstarrte Rollenschemata, wie sie der bürgerliche Klassikbetrieb entwickelt hat.
Das Medienereignis der Wittener Tage kultiviert Rest-Reservate jener idealistischen Kulturaufträge der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender, und das mit zeitgemäßer Professionalität! Also wird alljährlich „die Welt nach Witten“ geholt – vor allem aber finden die Stücke von Witten ihren Weg in die (zeitgenössische Musik-)Welt hinaus, wie Rainer Peters lobend herausstellt. (Das gilt übrigens nur fürs Radio. Das Fernsehen hat die Wittener Tage bislang weitgehend ignoriert.)
Seine Geburtsstunde hatte das Festival – so ist es in einer gründlichen Chronik nachzulesen – in den 1930er- Jahren, als ein umtriebiger Musikliebhaber dem Konzertleben in dunkler Zeit zu einer überlebensfähigen Nische verhelfen wollte. Da war eine wirkliche Moderne noch ganz weit weg. Doch ab den 1960ern kommt eine steile Dynamik ins Spiel – hin zu richtungsweisender ästhetischer Innovation, die „Witten“ zum tonangebenden Markenzeichen gemacht hat!
Verschiedene Autoren-Blickwinkel beleuchten die wechselnden Phasen unter mittlerweile drei Intendanten. Dominierte zunächst ein programmatischer „Gemischtwarenladen“, so folgte die entgegengesetzte Fokussierung auf Portrait-Festivals einzelner Komponisten-Persönlichkeiten von Cage bis Kurtág. Die jüngste, nun auch schon 25 Jahre dauernde Ära unter der Intendanz von Harry Vogt hat beides zur Synthese vereint, zuzüglich Performance- und Klangkunst-spielarten.
Erschöpfend stellt das vorliegende Buch all jene Konstanten heraus, die längst zum tragenden Fundament in Witten wurden, da sie regelmäßige Erneuerung garantieren: Komponisten von George Apergis, Heinz Holliger bis Klaus Huber, oder Klangkörper wie das Ensemble Recherche und natürlich das Arditti-Streichquartett, das wohl den Aufführungs-Rekord in Witten halten dürfte.
Die im Wolke-Verlag erschienene Dokumentation ist ein Standardwerk, das dem Festivalbesucher Hintergrundwissen in die Hand gibt und dem potenziellen Witten-„Neueinsteiger“ die Schwellenangst zu nehmen vermag.
Zudem machen zwei Audio-CDs einige bemerkenswerte Kompositionen aus dem Umfeld der Wittener Tage hörbar: Luzide funkeln etwa Edison Denisovs „Strahlen ferner Sterne im gewölbten Raum“. Karlheinz Stockhausens Posaunensolo „Signale zur Invasion“ zeugt von den unzähligen, in Witten stattfindenden Momenten kreativer Provokation. Die spannungsgeladenen Klangeruptionen des Arditti-Quartetts können ebenfalls hörend nacherlebt werden – in Bryan Ferneyhoughs „Dum Transisset“ aus dem Jahr 2006.