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Der Leser als aufmerksamer Mitarbeiter

Untertitel
De la Motte lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vielgestaltigkeit der musikalischen Form
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Diether de la Motte: Musik Formen. Phantasie, Einfall, Originalität – ins Ohr springend, für Aufmerksame, hineinversteckt. Augsburg: Wißner 1999. [Forum Musikpädagogik Bd. 38], 496 Seiten. Paperback. 69 Mark [Wißner-Lehrbuch Bd. 2]

Braucht die Musikwelt eine weitere Formenlehre, sind in den Standardwerken nicht alle wichtigen Aspekte des Themas hinreichend abgehandelt? Der von Diether de la Motte gewählte Titel lässt allemal aufhorchen. Da ist im Zusammenhang mit einer Formenlehre – von der man gemeinhin eine eher trockene analytische Aufarbeitung wichtiger und längst etablierter Werke der Musikgeschichte erwartet – plötzlich von „Originalität“ und von „Phantasie“ die Rede, die „ins Ohr springend, für Aufmerksame hineinversteckt“ wurde. Das klingt kein bisschen trocken und auch kein bisschen langweilig, sondern, ganz im Gegenteil, spannend. Der Autor möchte den Blick des Lesers in Bezug auf die Formfülle ausweiten und er empfiehlt seinen Lesern etwas, das er den „Schreibweg“ nennt und den er auch selbst beim Verfassen des Werkes gegangen ist. Der besteht aus dem aktiven Ausprobieren und Experimentieren mit Bleistift und Radiergummi, indem man zum Beispiel anhand eines Liedtextes eine eigene Formerwartung entwirft, bevor man sich die „Lösung“ des Komponisten vornimmt.

Für das Thema Choral beschränkt sich de la Motte auf die Kompositionen nur eines einzigen Tondichters (der Gregorianische Choral bleibt aus Platzgründen sinnvollerweise außen vor): Am Beispiel Johann Crügers untersucht er die vielfältigen Beziehungen der Gattung vor allem nach dem Verhältnis zwischen Text und Musik. Er geht dabei nach dem Prinzip vor, die eigene, von der Textaussage motivierte Formerwartung mit den tatsächlichen Kunstgriffen des jeweiligen Chorals zu vergleichen.

In der Darstellung hat man sich um große Anschaulichkeit bemüht, viele hilfreiche Notenbeispiele ausgesucht und den Text durch Tabellen und schematische Zeichnungen aufgelockert und vertieft. De la Motte gehört dankenswerter Weise zu den Autoren, die die Fähigkeit besitzen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren ohne ausschweifend zu werden oder durch zu große Knappheit Klarheit einzubüßen. Das Buch bietet keine puren Fakten, die sich zum schnellen Auswendiglernen etwa in der Prüfungsvorbereitung nutzen ließen. Vielmehr setzt es auf die aufmerksame „Mitarbeit“ des Lesers. De la Motte möchte seine Leser auch nicht auf allgemein gültige Regeln in der Formbildung einschwören. Er lenkt den Blick auf die Vielgestaltigkeit in musikalischer Form. Daher geht es beispielsweise beim Sonatenhauptsatz nicht um Beethovens Klaviersonaten, die ja im Allgemeinen beinahe als Prototyp des Sonatensatzes gehandelt werden. Die Beschränkung auf Klaviersonaten von Mozart und Haydn aus dem Zeitraum von 1771–1780 fördert eine unerwartete, schier unendliche Vielfalt an Gestaltungsprinzipien und Freiheiten zu Tage, die den beiden Wiener Klassikern ganz selbstverständlich zur Verfügung gestanden haben. Diether de la Motte will mit „Musik Formen“ keine Formenlehre neu schreiben. Die bekannten Standardwerke wie etwa von Hugo Leichtentritt, Richard Stöhr, Hermann Erpf und anderen können getrost im Regal stehen bleiben, ohne an Wert oder Gültigkeit zu verlieren. Vielmehr kann die Neuerscheinung zu einem vertieften, detailorientierteren und aktiveren Verständnis für formale Zusammenhänge beitragen. Die Beispiele spiegeln de la Mottes eigenen, manchmal unkonventionellen Zugang zur Musik auch und gerade über weniger bekannte Werke wider. Im Abschnitt „Minimal Music“ steht denn auch der altehrwürdige Josquin neben György Ligeti.

Die Publikation, die bis 1996 geschaffene Klangkunst berücksichtigt, arbeitet mit den interessanten, häufig zu wenig beachteten Aspekten musikalischer Form. Deshalb braucht die Musikwelt eine Formenlehre wie diese. Nicht um die bisherigen Standardwerke zu ersetzen, sondern um sie sinnvoll zu ergänzen.

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