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Der Mensch im Netz der Fakten

Untertitel
Jens Malte Fischers außerordentliche Mahler-Biografie
Publikationsdatum
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Jens Malte Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, Zsolnay Verlag, Wien 2003, 992 S., Abb., € 45,00, ISBN 3-552-05273-9

Buch versandkostenfrei im Bevor der breite Teppich der Fakten ausgerollt werden kann, muss die Figur, der diese Fakten gewidmet sind, montiert werden. Wer also war Gustav Mahler? Wie groß war er? Wie kräftig? Sah er wirklich so gut aus? Hatte er genug Bewegung? Warum eigentlich diese fiesen abgekauten Fingernägel? Jens Malte Fischer lässt sich nicht lange bitten. Bevor er uns Mahlers Vita erzählt, entwirft er gleich zu Anfang sein äußeres Bild – anstelle eines Vorworts. Kluger Schachzug. Überhaupt ist diese neue Biographie mit Bedacht komponiert. Immer wenn sich die Faktenlage verkompliziert oder wieder ein Block des Mahler-Reliefs abgeschlossen ist, folgen Zwischenstationen über Mahler als Dirigenten, die Frage nach Judentum und Identität oder eine eindrucksvolle Abhandlung von Mahlers Krankengeschichte.

Fischers Mahler-Porträt hat in den deutschen Feuilletons eingeschlagen wie eine glühend ersehnte Rakete aus Philologenland. Die „Süddeutsche Zeitung“ nennt es ein „Biographiemonument“ und ein „nuancenreiche[s] Historiengemälde“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kommt zu dem Schluss, dieses Buch sei „eine wahrhaft helle Freude“ und in diversen Jahresabschluss-Umfragen von „ZEIT“ und „Fono Forum“ folgten rekordverdächtig Nennungen zum „Musikbuch des Jahres“. Ein solches Echo macht dreierlei deutlich: Erstens – klar –, dass an diesem einheitlichen Lob tatsächlich etwas dran sein muss; zweitens, dass eine grundlegende, deutschsprachige Biographie Gustav Mahlers bisher fehlte; drittens, dass gerade im deutschen Sprachraum die Mahler-Rezeption mitunter nicht entschieden genug vorangekommen ist – gab und gibt es doch die bisher ausführlichste, bereits in den 80er-Jahren begonnene, mehrbändige Mahler-Dokumentation von Henry-Louis de La Grange zwar im französischen Original und in einer englischen Übersetzung, noch immer aber nicht aber auf Deutsch.

Was macht Fischers Buch nun so exzeptionell? Gewiss, der Umfang von knapp tausend Seiten, darunter ein rund hundertseitiger Anhang mit genauer Chronik, Quellennachweisen, Anmerkungen und Register. Daneben gelingt es Fischer über diese Seitenanzahl hinweg, seine Leser dank seiner anschaulich-lebendigen Sprache und der zahlreichen Querverweise zu Werfel, Canetti oder Thomas Mann bei Laune zu halten. Fischers Buch ist wissenschaftlich, aber es klebt nicht am Fachvokabular, und: es erklärt nicht nur das Phänomen Mahler, sondern auch den Zeitgeist. Beides ist komplex genug. Gerade was Alma betrifft, scheut Fischer weder Platz noch Mühen. Aus den vielen Tagebuch-, Memoiren- und Briefnotizen hat er synergetisch Wahrheiten gesogen, die sich zwar mosaiksteinartig zusammensetzen, aber nur selten thesenartig zuspitzen lassen. Vielleicht wäre damit auch die Aufgabe eines Biographen rasch überschritten. Ähnliches gilt für die Werkanalysen, die nicht zu Fischers Stärken gehören. Dagegen hätte er sein Schlusskapitel, „Anmerkungen zur Mahler-Interpretation und -Diskographie“, das sich nach dem üppigen Faktenstudium als ideales Erholungsgebiet des persönlichen Votums eignet, lieber ausweiten sollen.

In Fischers virtuos engmaschigem Netz aus Namen, Orten und Daten verfangen sich immer auch kurze Passagen, in denen Mahler als Mensch hängen bleibt. Vielleicht nie ganz und mit Resträtseln; zumindest aber gibt es Momente, in denen man meint, in seinem Charakter lesen zu können, etwa wenn Fischer über den Sommer 1909 konstatiert, dass Mahlers innere Verfassung eine „Mischung aus tiefem Ernst und stabilisiertem innerem Gleichgewicht“ gewesen sei, und wenn darauf einige von Mahlers Bemerkungen über die Begabung zum „Glücklichsein“ folgen. Weiter werden wir wohl kaum in ihn hineinschauen können und das ist wohl auch gut so. Hinreichend Klischees sind inzwischen gewuchert. Sie haben Mahler zu einem der Meistetikettierten der gesamten Musikgeschichte gemacht. Auch darauf geht Fischer ein und wagt einen skeptischen Ausblick: Eine Steigerung seiner Popularität sei kaum denkbar, eher „ihr Absinken, wenn die Restbestände bürgerlicher Bildung, die sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in ihrem letzten Abwehrkampf befinden, verschwunden sein werden“.

Fischer öffnet immer wieder beinahe schon en passant Türen, hinter denen sich noch genügend Raum für weiterführende Diskussionen befindet. Etwa wenn er darauf hinweist, dass die Schnittmenge von Mahler- und Bruckner-Dirigenten so erbärmlich klein ist. Fischer regt an, legt offen, bündelt, zerlegt, hinterfragt, ordnet zu – und das mit einem erstaunlichen Bemühen um Objektivität gegenüber dem verhandelten Inhalt. Noch einmal sei es gesagt: Dieses Buch setzt Maßstäbe.

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