Thomas Groß: Berliner Barock. Popsingles, edition suhrkamp
Thomas Groß: Berliner Barock. Popsingles, edition suhrkampGuter Pop-Journalismus ist immer auch Zeit-Diagnose: das, was ist oder eben noch war oder demnächst sein wird, wird in Gedanken erfasst und in Bildern festgehalten – aber nicht aus einer beliebigen Perspektive, sondern aus der einer emphatischen Jugend und einer selbstbewussten Bohème. Kurz: Pop-Journalismus ist überall dort, wo er mehr ist als Fan-Lallen, politisches Feuilleton, das sich nicht die Sorgen der Reichen und Mächtigen macht, sondern eine Mikro-Politik des Alltags im Sinne Foucaults mit dem Willen zu einer Ästhetik der Zukunft verbindet. Pop ist Widerstand und Subversion mit der gleichen Entschiedenheit wie vitalistisches Daseins-Design, „Posing“, und Stil als Identitäts-Projekt. Pop vergräbt sich in die Archive der Vergangenheit, um den Ort zu finden, wo noch keiner war.Pop-Journalismus war ursprünglich eine Sache der „Englishmen“ dies- seits und jenseits des Atlantiks, mittlerweile haben die deutschsprachigen „Schreiber“ aber aufgeholt und sind in vielem radikaler, reflexiver und „cooler“ als ihre Vor-Bilder.
Thomas Groß, bekannt geworden durch seine Essays und Glossen in „taz“ und „Zeit“, unterscheidet sich von Diedrich Diederichsen und anderen dadurch, dass bei ihm der Wille zum System und zur Botschaft deutlich gebremst wird durch eine labyrinthische Lust, sich den polymorphen Phänomenen einer post-modernen Realität hinzugeben, die nur noch eins vereint: der Verzicht auf den gemeinsamen Nenner, die Abseitigkeit als Lebensform, aber eben auch als ästhetisches Prinzip und PR-Programm.
Sein ein bisschen neckisch „Popsingles“ untertitelter Suhrkamp-Band „Berliner Barock“ ist vordergründig eine Auswahl seiner journalistischen Brot-Arbeiten aus den 90er-Jahren. Fast alle waren schon irgendwo zu lesen; trotzdem handelt es sich nicht um die übliche Reste- oder Zweit-Verwertung derer, die es sich leisten können. Nacheinander gelesen ergibt sich nämlich tatsächlich so etwas wie die Signatur der Nach-Wende-Zeit, eine Diagnose des sozio-politischen Status quo genauso wie des „state of the art“, der ihn ausdrückt und, mit viel Bereitschaft zu Maske und Metamorphose, verwandelt und überbietet.
In vielem ist Groß ein Karl Kraus des Pop – nur eben ohne Beckmessertum und besserwisserisches Pathos, auch ohne selbstmitleidigen Weltschmerz. Die herrschenden Semantiken setzt er dem Säurebad seines sprachbewussten Esprits aus; da bleibt oft nicht viel übrig. Aber die Bosheit wird bei ihm nur selten reine Bösartigkeit, pure Negation; in den meisten Fällen bleibt sie Mittel der Recherche. Groß ist vor allem Reporter. Er ist dabei; er schaut und hört zu; er notiert, was ihm auffällt. Hierarchien verachtet er: Er wohnt einem Vor-wahl-Meeting der Geistes- und Polit-Größen Habermas und Schröder in derselben Einstellung bei wie er sich die „Dunkelkammer am Rand der Welt“, soll heißen die Foto-Schätze des kleinbürgerlich-kreuzbergerischen Ateliers „Mathesie“ anschaut. Er rezensiert die erste Papst-CD „Abba Pater“ genauso wie Elton Johns herz-schmerzenden Auftritt als Minnesänger der toten „Lady Di“. Thomas Groß ist unbestechlich, schon „vor Ort“, nicht erst post festum. Er verzeichnet die Verlogenheit der Pop-Charity-Trauergemeinde und des mitleidenden New-Labour-Bosses Tony Blair, aber auch die Lebenslügen und Profitmitnahmen von linken Ikonen wie Rio Reiser („Ton Steine Scherben“) und Blixa Bargeld („Einstürzende Neubauten“). Die Wahl zwischen frühem Tod und später Nobilitierung durch Groß-Feuilleton und Goethe-Institut scheint da wie eine zwischen Pest und Cholera.
Thomas Groß schont selbst seine eigenen Überzeugungen nicht: Mit dem „Wohlfahrtsausschuss“ der linken Pop-Intelligenzia, die unter dem Schock von Rostock-Lichtenhagen, den Anfängen wehren will, geht er auf politisch-bewusste Reise, muss aber bei der Aufklärungs-Tour durch den neo-nazistischen deutschen Osten feststellen, dass die, die Bescheid wissen, weitgehend unter sich bleiben. Groß beweist Sinn für die Komik einer Predigt, die auf taube Ohren stößt. Aber auch dort, wo das Volk nicht fehlt, bei der Zelebration der großen Dylan- oder Neil-Young-Konzertauftritte, seziert der Autor seine Enttäuschung und seine Ergriffenheit ohne falsche Scham und vor allem ohne Angst vor dem Phantom-Schmerz einer Desillusionierung „forever“. So schildert er Dylans arthritische Gitarren-Soli auf der Grundlage zweier Töne, die aber am Ende merkwürdigerweise doch berührender sind als juvenile Virtuosität ohne Grenzen, beschreibt, wie eine Bühnenshow der mühsamen Ausfallschritte aussieht, taucht für Augenblicke in dylanologische Abgründe, wo mit der perversen Ausdauer erlösungsbereiter Tipp-Gemeinschaften Dylan-Auftritte nach etwaigen stochastischen Verdichtungen hin ausgewertet werden, verzeichnet sein eigenes Blamiert-Werden bei der Suche nach der „set-list“ (wo doch jeder Auftritt des Meisters seit Jahrzehnten ein von allen unvorhersehbares Unikat ist) und genießt am Ende doch die „Missionsreise“ des „hüftlahmen Erpels“. So müssen wahre Fans aussehen: kritisch bis ins unscheinbarste Detail und unbeirrbar hingabebereit.