„Von mir kommt nie eine ordentliche Photographie zu Stande, und ich warte, bis sich einmal ein bedeutender Maler über mich hermacht!“ So liest man in einem Brief Wagners vom 27. November 1858 aus Venedig an seine Gattin Minna in Dresden. Tatsächlich hat sich ein nicht ganz unbedeutender Maler Anfang 1882 in Palermo über Wagner, der dort gerade seinen „Parsifal“ vollendet hatte, hergemacht: Pierre-Auguste Renoir. Das Bild war zuletzt im Besitz des Pianisten Alfred Cortot und hängt heute im Pariser Musée d’Orsay.
Als Auster von einem Epikuräer verschluckt
Wer es dort gesehen hat, kann Wagner schwerlich widersprechen, der gegenüber Cosima (wie sie am 15. Januar 1882 in ihrem Tagebuch festgehalten hatte) geäußert haben soll: „Von dem sehr wunderlichen, blau-rosigen Ergebnis meint R., es sähe aus wie der Embryo eines Engels, als Auster von einem Epikuräer verschluckt.“
Auch wenn Wagner eine lebenslange Skepsis gegenüber dem Medium Fotografie hegte, das „Bild“, das wir von ihm haben, stammt von Fotografen. So wie Joseph Albert und Edgar Hanfstaengl in München, Jules Bonnet in Luzern und Adolf von Groß in Bayreuth – um nur einige zu nennen – den „Meister“ abgelichtet haben, mit oder ohne Barett, kennen wir ihn schließlich, das ist „unser“ Wagner.
In dem Band von Gunther Braam (der bereits mit Arbeiten über Ikonografien französischer Komponisten auf sich aufmerksam gemacht hat) werden erstmals alle 68 überlieferten Fotografien Wagners in streng chronologischer Folge und durchweg in Farbe (meist Sepia-Töne) gezeigt.
Ursprünglich sollte die Publikation neben Fotografien auch Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, Büsten und Karikaturen enthalten und zum Wagnerjahr 2013 erscheinen, doch das Projekt wucherte derart ins Uferlose, dass der Verlag, der es ursprünglich betreute, Abstand von einer Veröffentlichung nahm. Es ist verdienstvoll, dass der ConBrio Verlag das anspruchsvolle Projekt zu Ende geführt hat, auch wenn das einstige Vorhaben drastisch reduziert wurde auf nur eine Bildgattung, die Fotografie. Zwar hat Solveig Weber in ihrer 1993 erschienenen, umfangreichsten Arbeit zum Thema ganze 404 Abbildungen Wagners verzeichnet, darunter waren aber nur 41 Fotografien, von denen nur 34 richtig datiert waren. Braam hat alle seit 1933 erschienenen 10 maßgeblichen Publikationen mit Wagnerbildnissen akribisch verglichen und nach jahrelangen Recherchen, nicht zuletzt im Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung in Bayreuth, endlich eine Publikation vorgelegt, die die existierenden Fotografien Wagners zuverlässig datiert. Besseres ist zu Wagner-Fotografien nie vorgelegt worden.
Ikonografischer Standort ermittelt
Darüber hinaus hat er sie mit entsprechenden Fotografien von Berlioz, Meyerbeer, Offenbach, Liszt, Gounod und Verdi (um nur einige zu nennen) verglichen, um ihren ikonografischen Standort zu ermitteln. Sah Wagner tatsächlich so aus oder wollte er so gesehen werden? Schwer zu entscheiden. In informativen Exkursen über die Technik der Daguerreotypie und der nachfolgenden Papierfotografie, unter denen die Carte-de-visite-Fotografie von André Adolphe-Eugène Disdéri besondere Bedeutung erlangte, weil sie sich in beliebig vielen Abzügen herstellen und gut vermarkten ließ, veranschaulicht Braam die Ikonologie der Fotos. Man erfährt aber auch viel über den Verlauf einer Aufnahmesitzung, über Kopfstützen zum Ruhigstellen der Aufnahmeobjekte bei (mit heute verglichen) langen Belichtungszeiten und Kopfbedeckungen, Posen, Atelier-Requisiten und die berühmtesten Ateliers des 19. Jahrhunderts. Großen Raum nimmt die Erörterung der Schwierigkeiten des richtigen Datierens ein.
So sehr Wagner immer wieder gegen die Fotografie wetterte und kaum je zufrieden war mit den Ergebnissen seiner Ablichtung: Die Fotografie, die Edgar Hanfstaengl zwischen dem 11. und 14. Dezember 1871 in München von Wagner machte, hielt dieser für „das beste öffentlich erschienene Porträt“ von sich, wie er in einem Brief vom 26. Dezember 1879 an Alfred Krauße schrieb, der nach dieser Fotografie einen Stich anfertigte. Alle sechs Fotografien, die in derselben Aufnahmesitzung entstanden, werden übrigens auf einer Klapptafel nebeneinander abgebildet. Nicht nur bei Hanfstaengl wird das so gehandhabt. Die Vergleichbarkeit der Bilder und Bildausschnitte, aber auch präzise Bildlegenden, die über Farbigkeit und Quelle informieren, erschließen Zusammenhänge, die dem Verständnis der Überlieferungsgeschichte zuarbeiten, die in einem großen Anhang Thema ist, wo Radierungen, Holzstiche Gillotypien und Lithographien gezeigt werden.
Prachtvoll gestaltet, hervorragend ediert
„Mit der Erfindung und Verbreitung der Fotografie bekamen traditionelle Portrait-Techniken wie Gemälde oder Zeichnung, vor allem aber die Lithographie, ab 1840 eine ernstzunehmende Konkurrenz. Spätestens mit der Einführung der Carte-de-visite-Fotografien hatte um 1860 die Fotografie die Lithografie als die am weitesten verbreitete Portraitform abgelöst.“
Man kann Gunther Braams prachtvoll gestaltetes, hervorragend ediertes, fest gebundenes Buch nicht nur als Wagnerpublikation lesen, sondern auch als Geschichte der Fotografie am Beispiel eines berühmten Fotografierten. Auf jeden Fall ist dieser Band der beste (genaueste) und schönste über die existierenden Fotografien jenes „schnupfenden Gnoms aus Sachsen mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter“ (Thomas Mann).
Gunther Braam: Richard Wagner in der zeitgenössischen Fotografie.
ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2015, 228 S., € 29,90, ISBN 978-3-940768-44-5