Kein deutscher Musikwissenschaftler hat in den letzten 20 Jahren mit solcher Intensität ein großes Buch nach dem anderen veröffentlicht. Groß heißt: monographisch über Komponisten schreiben, deren Leben, Werk und Nachwirkung jeden vor einer Gesamtdarstellung erschaudern lassen. Bach, Mozart, Schumann, Wagner und jetzt Beethoven, gleichsam die Spitze von all dem.
Geck, ein Spezialist für die deutsche Musik, schreibt nicht aus dem avantgardistischen Geist der Gegenwartsmusik, sondern sucht die Einfühlung in den geschichtlichen Gegenstand, das aber auf dem Stand des heutigen Denkens und der heutigen Erfahrung. Er schreibt flüssig, stets verständlich, dabei aber sehr dicht, äußerst facettenreich und mit Querbezügen buchstäblich in alle Richtungen. Solches Wissen haben nur alte Menschen. Geck versteht es mithin, seinen Lesern nichts zu schenken und doch für sie umfänglich auch die vertracktesten musikalischen Probleme klar und nachvollziehbar zu formulieren. Kein Wunder, dass sich seine Bücher verkaufen.
Beethoven ist bekanntlich unerschöpflich, nicht nur seine Musik, sondern auch die Person, der Zeitgeist, die Wirkungsgeschichte auf die Musik wie auf das Musikleben bis heute. Um dies alles in 500 Seiten zu packen, gliedert Geck sein Buch in 12 Kapitel mit je drei Unterpunkten, mit dem Epilog also 37 Abschnitte, jeweils einer Person zugeordnet, darunter überraschenderweise Shakespeare, Hölderlin, Strawinsky und Deleuze.
Damit verfährt er doppelgleisig, spricht andauernd über die Musik, insbesondere Schlüsselwerke wie die Sturmsonate (die bekanntlich mehr als eine Sonate ist) oder die Achte Symphonie mit ihrer verqueren Musiksprache; aber jeweils unter den verschiedensten Blickwinkeln: philosophisch, literarisch, politisch, aufführungspraktisch, rezeptionsgeschichtlich, in der Nachwirkung (so auf Schubert oder Liszt) oder in der Neukonstituierung des modernen, freien künstlerischen Ichs. Dieses Buch ist keine Biographie, es will nichts Geringeres, als Beethovens Kunst darzustellen.
Mit elegantem Charme und teils virtuoser Raffinesse weist Geck alle Verkürzungen Beethovens auf bestimmte Sichtweisen zurück. Denn für ihn ist dieser „Klassiker“ nicht nur ein dialektischer Komponist, sondern der dialektische Komponist schlechthin. Damit ist gemeint, dass jeder Zugang zu seinem künstlerischen Kosmos ergänzt werden muss durch die Betrachtung der Gegenseite. Diese Musik ist eben nicht nur formal durchgebildet, sondern auch inhaltsästhetisch motiviert; nicht nur heldenhaft und pathetisch, sondern auch friedlich und innig; nicht nur „klassisch“, sondern auch „romantisch“, nicht nur in die Zukunft weisend, mithin „avantgardistisch“, sondern auch die Tradition aufgreifend; nicht nur biographisch, sondern auch politisch und für ein Kollektiv sprechend.
Beethoven scheint irgendwie „alles“ zu sein. Und so verknüpft Geck mit geradezu spielerischer Leichtigkeit das Biographische mit dem Philosophischen, Beethovens Inspirationsquellen mit der Aufführungsgeschichte, analytische Details mit ästhetischen Erörterungen, historische Zeitumstände mit Fragen der Wirkungsgeschichte. Musikwissenschaft im engeren Sinne spielt kaum eine Rolle. Besonders wichtig sind die bei Beethoven nicht erklärbaren „Ausnahmen“: das Hereinbrechen von Regelverstößen, das Improvisatorische, das Körpersprachliche, Momente direkter Emotionalität, Semantisierungen durch passgenaue Platzierungen (so das Trompetensignal im „Fidelio“). Kein Komponist vor ihm hat sich solche Freiheiten genommen. So wird Beethoven zum modernen Ich, das zugleich ein modernes gesellschaftliches Subjekt ist, das sich der neuen Zeitvorstellung nach der Französischen Revolution und der Vorstellung verpflichtet, man könne Geschichte aktiv gestalten.
Zugleich kommt in dieser Musik eine Selbstreflexion über sich selbst in Gang, so mit der „Hammerklaviersonate“ und durch die Steigerung der formalen Mittel zu einem Mehretagenbau wie der „Großen Fuge“. Beethoven ist für Geck, ähnlich Bach, ein Philosoph unter den Komponisten, der ewig an der „Missa solemnis“ sitzt, um seine Religionsauffassung zu präzisieren, der sich für die unübertroffenen „Diabelli-Variationen“ die Zeit nimmt, die nur ein freier Künstler hat. Beethoven wird zu einer Geistesgröße, die gemeinhin nur Philosophen wie Hegel und Marx oder Dichtern wie Dante und Goethe zugebilligt wird. Seine Bedeutung erschöpft sich nicht in der Europahymne.
- Martin Geck: Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum, Siedler, München 2017, 509 S., € 20,99, ISBN: 978-3-641-19436-9