Wie bitte: Skandal als Kunst? Und dann folgerichtig im Buch-Text zu lesen, dass die mediale Berichterstattung darüber einen bedeutenden Anteil hat, wodurch die jeweilige Operninstitution auch an künstlerischer wie banaler Publicity gewinnen kann…? Doch ein Kenner wie Robert Sollich, der als Dramaturg die ersten, beeindruckenden Inszenierungen Katharina Wagners betreute, analysiert und strukturiert so eingehend, dass auf rund 600 Seiten eine Operngeschichte der bereichernd anderen Art erwächst.
Der Skandal als Kunst
Politisches Umfeld
Hinleitend geht er von Kants „öffentlich gegebenem Beispiel der Verletzung strenger Pflichtgesetze“ hin zum aktuellen politischen Umfeld – „Wo es Skandale gibt, ist einiges faul, wo sie fehlen, alles“ (Christian Schütze) – weiter zur Dreierformel des Soziologen Karl Otto Hondrich „Verletzung, Enthüllung, kollektive Entrüstung“ und zum profundesten „Skandal-Theoretiker“ Sighard Neckel, der den Dreierschritt „Verfehlung, Offenbarung, öffentliche Empörung“ präzisiert hat.
Sollich sieht, dass sich dies auf die Theaterwissenschaft anwenden lässt: Überholte und bedrohte Normen zu theatralisieren und in Aufführungen bis hin zur Übertragung Konflikte auslösend sichtbar zu machen.
Seine gewählten Beispiele zeigen dann, dass künstlerische Normen nach 1945 unsicher geworden oder neue noch nicht ausgeformt waren. In elf Kapiteln werden die Auseinandersetzungen um Henzes „König Hirsch“ 1956, Schönbergs „Moses und Aron“ 1959, Wieland Wagners Bayreuther Inszenierungen der „Meistersinger“ 1956 und 1963, Dessau-Brechts „Verhör des Lukullus“ in Ost-Berlin 1951, Götz Friedrichs Inszenierung des „Tannhäuser“ in Bayreuth 1972, natürlich um den „Jahrhundert-Ring“ von Boulez-Chéreau 1976, danach die „Akte Neuenfels“ vom Nürnberger „Troubadour“ 1974 über die Frankfurter „Aida“ von 1981 bis hin zum Berliner „Idomeneo“ von 2003 thematisiert; dazwischen schiebt Sollich „epische Skandale“ wie das „Theater um Ruth Berghaus“, die auch gegen einen damals noch erkennbaren „Regie-Machismo“ anzukämpfen hatte, oder um Peter Konwitschny samt seiner Intention der „Veränderbarkeit der (Opern-)Welt“.
Stil-Schulung
Fast jedes der unterschiedlich großen Kapitel liest sich einzeln wie ein Porträt, eine Inszenierungsgeschichte und auch eine Stil-Schulung. Dabei nutzt Sollich die über diese Jahrzehnte angewachsene Fachbücherfülle und ebenso das mitunter weltweit breite publizistische Echo dieser Skandale, indem er aus Publikationen der Theaterwissenschaft und ausgewählten Kritiken zitiert. Dazu ist als einzige kleine Einschränkung über den 600 Seiten schweren Band zu machen: Verdichtung und damit Straffung hätten mitunter gutgetan, vielleicht wäre dann noch Platz für je ein Kapitel zu Joachim Herz und Harry Kupfer geblieben, die nur erwähnt und kurz herangezogen werden – so reizvoll sich auch etwa die vielen Details zum ausführlich gewürdigten „Meister des Tumultes“ Hans Neuenfels lesen.
Dafür entschädigt eine die Rezension sprengende, beeindruckende Fülle an Einsichten: voran der Einblick in die DDR-Kunst-Politik im „Lukullus“-Kapitel. Auch zur Neu-Bayreuther „Entrümpelung“ ab 1951 und zur Entwicklung Wieland Wagners bis zu seinem schmerzlich frühen Tod 1966 kristallisiert sich heraus, dass die „Umpflügung des Feldes“ zur „Wahrheit der Stücke in ihrer vermeintlichen Zeitlosigkeit“ geführt habe. Die Zusammenschau einiger Inszenierungen von Ruth Berghaus erweist sich als tiefer Blick in Werke und ihre konsequent andere Interpretation. Sollichs Kapitel „Kopflos in Berlin“ zu den vier Häuptern von Religionsgründern im Schlussbild des „Idomeneo“ belegt dann gar, dass nicht die Aufführung, sondern ihre etwas kopflose Absetzung zu einer weltweiten Diskussion um Kunstfreiheit zwischen Lokalposse und Welttheater geführt hat. Zwar zeigt seine Analyse die Bedeutung herausragender Regisseure, zu denen bislang nur eine Frau gehört, im Zusammenhang mit der Etablierung der Begriffe „Musiktheater“ und „Regietheater“, doch warnt er auch vor einer Art neo-romantischer Genieästhetik um den aufgewerteten Autor der Szene und des Spiels. Deshalb diskutiert er mehrfach den Kampfbegriff „Werktreue“ und die bislang dominierende Unantastbarkeit der Partitur. Erkennbar wird, dass fast alle angeführten „Skandale“ eine herausfordernde, überraschende und vertiefende Sicht auf die Werke eröffneten, dass dabei die künstlerische und philosophische Haltung des Komponisten, dann psychologischer Tiefblick und surreale Dehnung des Horizonts bei der Interpretation mitspielen. Erkennbar wird prompt auch, dass diese Aufführungen den mitdenkenden, ja „mitarbeitenden“ Zuschauer fordern – Wagner grüßt! Sollich will keine allgemeingültige Generallinie des Skandals ziehen, vielmehr sieht er einen „Strauß an Gegensätzen, Episoden und Abschweifungen“; wie beim Cocktail macht die „Mischung der unterschiedlichen hochprozentigen Komponenten die Wirkung“ – wenn das keine reizvollen Metaphern für den Skandal sind!
- Robert Sollich: Die Kunst des Skandals. Eine deutsche Operngeschichte seit 1945, Wehrhahn Verlag, Hannover 2022, 656 S., € 38,00, ISBN: 978-3-86525-878-6
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