Nike Wagner, die aufmüpfigste Urenkelin Richard Wagners und wichtigste familiäre Nachkämpferin für ihren 1966, mit nur 49 Jahren an Krebs verstorbenen Vater Wieland, erinnert im Vorwort dieses Buches an den Bruderkonflikt im Hause Wagner und manifestiert, dass Wolfgang Wagners Verwaltung des Nachlasses seines Bruders „einer Vernichtung gleichkam“. Um so erstaunlicher, was Ingrid Kapsamer für ihre Wiener Dissertation dann doch alles an Materialien von und über Wieland Wagner aufgefunden und herangetragen hat – wenn auch kaum in Bayreuth, wo nicht einmal die Regieauszüge zu „Tristan und Isolde“ (1962) und zu seinen beiden Inszenierungen der „Meistersinger von Nürnberg“ (1956 und 1963) erhalten sind.
Für Kapsamers Ansatz, die künstlerischen, familiären und ideologisch-politischen Wurzeln des Wagner-Enkels aufzudecken, als besonders hilf- und aufschlussreich, erwiesen sich Briefwechsel Wieland Wagners, etwa jene mit den Dirigenten Hans Knappertsbusch und Kurt Overhoff – der auch in dessen jungen Jahren Wieland Wagners Lehrer in Musikfragen war –, weiter Briefwechsel mit Willy Kienitz, Wolfgang Schadewaldt und Carl Orff, insbesondere aber mit Ulrich Roller, dem Sohn des Bühnenbildners Alfred Roller.
Kapsamer zieht die veröffentlichten Aufsätze Wieland Wagners heran, etwa die programmatische Abhandlung „Überlieferung und Neugestaltung“ im Festspielbuch von 1951, in welchem der Inszenator den leeren, „ausgeleuchteten Raum“ bereits theoretisch an die Stelle des „beleuchteten Bildes“ rückt, wie er es dann in seiner „Entrümpelung“ der Szene nachvollzog.
Die Autorin erläutert den Werdegang des Regisseurs, seine Auseinandersetzung mit Wagners Werken, kunsttheoretischen und zeitgeschichtlichen Schriften, wie mit den Reformbewegungen des Theaters des 20. Jahrhunderts, die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie Freuds, der Symbolforschung C.G. Jungs, der Mythenforschung sowie der Malerei der Moderne, aus der Wieland Wagner seine individuellen konzeptionellen Lösungen entwickelte.
Unter den zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen finden sich auch Werke des Malers Wieland Wagner, wie auch das farbige Porträt seines Vaters Siegfried Wagner und das seines Großvaters Richard Wagner. Natürlich bleiben in einer derartigen Publikation diverse Wünsche offen. So vermisst der Leser etwa die – von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft, allerdings leider nur in Schwarzweiß veröffentlichten – Bühnenbildentwürfe und Figurinen Wieland Wagners zu den Opern seines Vaters.
Aber auch in der Analyse gibt es Lücken. So zeigt etwa auf Seite 302 ein Foto der „Meistersinger“-Inszenierung von 1963 laut Bildunterschrift „Carlos Alexander“. Aber nur jene Leser, die diese Inszenierung erlebt haben und sich daran erinnern können, vermögen den Sängernamen einem der zahlreichen Köpfe zuordnen. Es ist – inmitten eines Menschenstrudels, dessen Bewegung das Foto von Wilhelm Rauh trefflich einfängt – ein Herr mit Eselsohren. Die Vorliebe Wieland Wagners für den griechischen Mythos und dessen Anwendung ließ sich nämlich auch an einem Detail dieser Inszenierung feststellen: Beim Volkszorn gegen Ende der Handlung gegen Beckmesser wurden diesem Eselsohren aufgesetzt, so wie nach dem mythischen Gesangswettstreit zwischen Pan und Apollon dem Merker Midas ob seines Fehlurteils Eselsohren wachsen. Aber auch der Frage eines möglichen Einflusses durch die französische Oper wäre hier nachzugehen. Denn offenbar hat Wieland Wagner die Oper „Le Jugement de Midas“ (1776) von André Ernest Modeste Grétry, mit der finalen Delegation des Urteils an das Auditorium, als musikdramatische Quelle für denkbare optische Lösungen des Sängerwettstreits in seiner Interpretation mit herangezogen.
Als hilfreich erweist sich die von Kapsamer angeführte Zeittafel, in der auch Reisen und Aufführungsbesuche Wieland Wagners, wichtige Daten der Zeit- und Kunstgeschichte sowie aus Wieland Wagners familiärem Umfeld berücksichtigt sind. In Kapsamers Dokumentation der TV-Aufzeichnungen von Inszenierungen Wieland Wagners zu ergänzen ist die komplette „Walküre“ des Gesamtgastspiels der Bayreuther Festspiele in Osaka. Schwarzweiße Filmausschnitte dieser Aufzeichnung enthält unter anderem ein TV-Film über Anja Silja, die hier – im Gegensatz zu Bayreuth – die Brünnhilde sang. Laut Auskunft von am Gastspiel beteiligten Opernsängern erfolgte die Aufzeichnung sogar in Farbe, allerdings in einem hierzulande zu keiner Zeit und in Japan heute nicht mehr gebräuchlichen TV-System.
Die flüssig geschriebene Arbeit ist grundsätzlich gut lesbar. Erschwert wird die Lektüre allerdings durch die Verlagerung von Kapsamers lesenswertem Quellenapparat mit seinen fast 1600 Anmerkungen in den Anhang des Buches. Eine wichtige Veröffentlichung.