Welches Wissen und welche Kompetenzen sollen in der Schule erworben werden, damit Heranwachsende den rasanten Veränderungen des sozialen Miteinanders, der zunehmenden digitalen Vernetzung oder der drohenden „virtuellen Fremdbestimmung“ gewachsen sind? Was braucht der Mensch, um sich in der modernen, hochentwickelten und komplexen Gesellschaft selbstbestimmt bewegen zu können? Insbesondere die Frage nach der kulturellen, ästhetischen Bildung des Einzelnen ist eine zentrale, wenn es um das Wesen und um die Entwicklung der Gesellschaft geht. Soll es der Wissenschaft gelingen, stärker auf die individuellen Lebenswelten einzugehen, muss sie diese, also die aktuelle Praxis, stärker in den Blick nehmen.
Wie hängt alles zusammen?
Insofern ist es nur folgerichtig und spannend, wenn Christopher Wallbaum mit der Fragestellung „Wie wird Musikdidaktik gegenwärtig betrieben und wie hängen die verschiedenen Perspektiven zusammen: die Musik mit der Praxis und die musikdidaktischen Theorien untereinander?“ eine Standortbestimmung der heutigen Musikdidaktik unternimmt. Seinem neuen Buch „Perspektiven der Musikdidaktik – drei Schulstunden im Licht der Theorien“ ging eine Tagung an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bart
holdy“ in Leipzig voraus. Zwölf Musikdidaktiker waren eingeladen, drei videographierte Musikstunden aus der Perspektive der jeweils eigenen didaktischen Theorie zu betrachten und zu beurteilen, also ihre Theorie „bei der Arbeit“ zu zeigen. Damit rückt das Vorgehen in die Nähe der Praxisforschung John Elliots, dessen Arbeiten in den 90er Jahren in England einen Paradigmenwechsel in der Lehrerbildung auslösten. Die großen Potenziale dieser Forschungsmethode werden zunehmend auch in Deutschland genutzt. Die Praxisforschung ist die systematische Reflexion von Praktikern über ihr Handeln, in der Absicht, es weiterzuentwickeln. Es ist interessant festzustellen, dass Wallbaum, ebenso wie die Praxisforschung es tut, die praktischen Beispiele in das Zentrum der Wissenschaft rückt.
Theoretische Erkenntnisse über Schulstunden
Es stellte sich (nicht nur den Referenten) die Frage, ob es möglich sei, anhand von drei zufälligen Musik-unterrichtsstunden, die doch kaum als repräsentativ gelten können und die einen stark ausschnitthaften Charakter offenbaren, theoretische Erkenntnisse zu gewinnen. Folgt man jedoch der modernen sozialwissenschaftlichen Forschung, die auf den Psychologen Kurt Lewin zurückgeht, ist auch ein selten vorkommendes Geschehen eine Realisierung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten und muss wissenschaftlich ernst genommen werden. Er sagt, eine Geröllhalde habe nicht mehr Beweiskraft für die Gültigkeit des Fallgesetzes als ein einzelner, auf dem Weg liegender Stein. Wenn nur das als gesetzmäßig anerkannt wird, was häufig geschieht, verkommt Gesetzmäßigkeit zur „Häufigkeit des Durchschnitts“. Der individuelle Einzelfall stünde dann der Regelmäßigkeit des abstrakten Durchschnitts als Gegensatz gegenüber. Anstelle einer Beweisführung anhand von Repräsentanzen wählt Wallbaum eine Methode, die sich gerade nicht an Häufigkeit und Durchschnitt orientiert, um dem Wesen von Musikvermittlung auf den Grund zu gehen.
Insofern ist das Vorstellen von drei „beliebigen“ beispielhaften Unterrichtsstunden – mit der Einschränkung, dass die Lehrer selbst „ihre Stunde gut und exemplarisch für ihren Unterrichtet finden sollten“ (Wallbaum) – durchaus gerechtfertigt. Die Reaktionen der Referenten allein in der Positionierung zu dieser Frage offenbaren aufschlussreiche Kontroversen und implizieren ein Infragestellen der gängigen Untersuchungsmethoden prinzipiell.
In den Tagungsbeiträgen, die einen Hauptteil des Buches bilden, wird deutlich, dass es zwar einen Konsens über einige zentrale Aspekte gibt, wie zum Beispiel die unbestrittene Bedeutung musikalischer Selbsttätigkeit im Musikunterricht, dass aber in vielen Details die Ansichten der Wissenschaftler weit auseinander gehen. Dabei ist es hoch interessant, das unterschiedliche methodische Herangehen bei der Analyse der Stunden zu erleben und es ist erstaunlich, mit welchem Scharfblick einzelne Momente oder Aspekte der Stunden beleuchtet werden. Damit stellt sich auch für den Leser immer wieder die Frage neu, welche Aspekte von Unterricht überhaupt fokussiert werden sollen, um diesen nach seiner Qualität beurteilen zu können.
Neben den zwölf Einzelbeiträgen enthält das Buch die sogenannten „Fishbowls“. Mehrere Diskussionrunden wurden während der Tagung veranstaltet, bei denen je vier Wissenschaftler im Zentrum diskutierten und die außen sitzenden Zuschauer sich in die Diskussion mit einbringen konnten. Die Aufzeichnung der Fishbowls ist ein großer Gewinn: durch die Lebendigkeit der Auseinandersetzung wird man auch als Leser in den Kreis der Fishbowl-Betrachter gezogen und zur Meinungsbildung herausgefordert.
Der hier evozierte Eindruck der „Räumlichkeit“ der Publikation wird noch dadurch verstärkt, dass die drei Unterrichtsstunden auf DVD beigefügt wurden. Der Leser kann somit selbst den Gegenstand der Auseinandersetzung genau betrachten, kann dabei den Unterricht mit Hilfe der drei aufgezeichneten Kameraperspektiven jeweils aus Lehrer- oder Schülersicht beobachten.
Wallbaums „Perspektiven der Musikdidaktik“ ist nicht nur ein Arbeits- und Studienbuch, sondern es hat sich inzwischen als Praxisbegleiter bewährt. Bereits mehrfach konnten sich Musiklehrer und Lehramtsstudenten in verschiedenen Veranstaltungen aus ihrer je eigenen praxisnahen Perspektive sowohl mit den videographierten Unterrichtsstunden, als auch mit den Sichtweisen der Musikdidaktiker auseinandersetzten und ihre eigene Praxis beziehungsweise ihre eigene Vorstellung davon an diesen messen und gemeinsam diskutieren. Dass dafür ein Bedürfnis vorhanden ist, erklärt sich auch daraus, dass es leider an den meisten Schulen (noch) üblich ist, den Unterricht aus verschiedenen Gründen nur „hinter verschlossenen Türen“ stattfinden zu lassen. Gemeint ist, dass zwar Ergebnisse, selten aber Vermittlungsmethoden nach außen dringen und dass kaum ein Lehrer vom anderen weiß, wie dessen Unterricht abläuft. Auch scheinen Absprachen der Fachkollegen zwar bezüglich der Inhalte, kaum aber bezüglich der Ziele und der Methoden getroffen zu werden. So ist es nicht verwunderlich, dass bereits der (Video-) Einblick in den fremden Unterricht „gestandene“ Kollegen zu einer deutlichen, mitunter radikalen Positionierung drängt und intensive Pro- und Kontradebatten entfacht werden – beste Voraussetzung zur Qualitätssteigerung von Musikunterricht.