Am Theater an der Wien war die erste Fassung des „Fidelio“ aufgeführt worden. Kurz danach fand sich eine Abendgesellschaft zusammen, „im Palaste des Fürsten Karl Lichnowsky, des großen Beschützers von Beethoven“. Mehrere Zeitzeugen haben über diese Soirée berichtet: „Freunde waren damals in jener Gesellschaft, um Beethoven zu bewegen, zu den Veränderungen seine Zustimmung zu geben, welche in der Oper vorgenommen werden mußten.“ Die Zeugnisse fallen unterschiedlich aus, aber nur in Nuancen.
Ihr gemeinsamer Nenner besagt, dass es keinesfalls einfach war, Beethoven zu möglichen Korrekturen an seiner ersten Oper „Fidelio“ zu bewegen. Das Theater an der Wien war im Juni 1801 eröffnet worden. Es sollte für Beethoven einer der Dreh- und Angelpunkte seiner Karriere werden. Nicht nur der „Fidelio“ wurde hier in den beiden ersten Fassungen gespielt, es gibt eine ganze Reihe von Werken, die in diesem Haus zur Uraufführung kamen oder zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurden.
Begegnungsort und Schaltzentrale
In dem von Julia Ackermann und Melanie Unseld herausgegebenen Band „BEETHOVEN.AN.DENKEN“ beleuchten verschiedene Autoren in elf Aufsätzen das Theater an der Wien als zentrale Begegnungs- und Schaltzentrale, als eine Art Schmelztiegel für Beethovens Lebensalltag, für persönliche Begegnungen und künstlerische Entwicklungen. Damals war das Theater nicht nur Spielort, sondern eine Art „Soziotop“, da etliche Musiker mit ihren Familien innerhalb des Theaterkomplexes wohnten – eine generationenübergreifende Lebens- und Arbeits-WG. Auch Beethoven und sein Bruder Kaspar Karl bezogen im Frühjahr 1803 eine der Wohnungen.
Mit diesem eingegrenzten thematischen Schwerpunkt unterscheidet sich der Band von den meisten anderen Veröffentlichungen, die zum Beethoven-Jahr 2020 dem Buchmarkt zugeführt wurden. Den überwiegenden Anteil bilden übergreifende Darstellungen. Zu nennen wären etwa die biographisch orientierten Darstellungen von Kirsten Jüngling und Matthias Henke. Jüngling möchte dem Leser in „Der Mensch hinter dem Mythos“ vor allem die Person Beethoven zeigen, unmittelbar und plastisch. Doch erweist sich der Band als heikel. Vieles bleibt unscharf, bewegt sich an der Grenze zur Verklärung, auf der Suche nach dem Titan … So aber rückt uns Beethoven kaum näher. Ungleich sachbezogener liest sich Henkes „Beethoven. Akkord der Welt“. Hier wird der Werdegang des Komponisten innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Systems nachgezeichnet: Beethoven als Querdenker, als Aufrüttler, der gleichzeitig aber auch von diesem bestehenden System abhängig ist, da seine wesentlichen Geldgeber dem Adel angehören. So entstehen etliche Spuren, die sich immer wieder einleuchtend verzahnen. Wer also zwei sehr unterschiedlich gedachte und umgesetzte Ansätze nebeneinanderstellen möchte, lese Jüngling und Henke unmittelbar nacheinander …
Von allen denkbaren Seiten beleuchtet
„Beethoven total“ bietet das von dem Pianisten und Musikwissenschaftler Siegbert Rampe herausgegebene Buch „Beethovens Welt“. Mit 20 weiteren Autoren hat er auf über 650 Seiten knapp 40 Beiträge zusammengestellt, einige wenige wurden bereits 2008 im Beethoven-Lexikon zum ersten Mal gedruckt. Hier wird Beethoven tatsächlich von allen denkbaren Seiten beleuchtet. Ein großes Panorama mit vielen Detail-Einblicken. Wir folgen dem Komponisten in seine Wohnungen, wir blicken in seine Brieftasche und erfahren, wie er mit Geld umgegangen ist; wir lesen in seiner Krankenakte und in seinen Tagebüchern, lernen seine religiösen Anschauungen und ebenso seine Freunde und Gönner kennen. In diesem Band gelingt es, wissenschaftlichen Prinzipien gerecht zu werden und gleichzeitig den Laien so einzubinden, dass der Eindruck entsteht, man würde Beethoven mit mehreren Kameras in unterschiedlichen Lebenssituationen begleiten: Beethoven als Musiker, Beethoven und seine Instrumente, etcetera. Im Kapitel über Entwicklungen im Klavierbau werden bis in Details hinein Fortschritte bei Mechanik und Hammerköpfen beschrieben, aus denen sich ableiten lässt, welche eigenen Klangideale Beethoven aufgrund der Neuerungen entwickelt haben dürfte.
In der Summe führen die vielen Einzelbeobachtungen dazu, dass man Beethovens Musik womöglich mit anderen Ohren hören wird, zumal seine Kompositionen – aus gutem Grund – in diesem Buch komplett ausgespart werden. Daher bietet sich als Komplementärlektüre Martin Gecks kleines, aber brisantes Bändchen „Beethoven hören“ an. Er pickt sich einzelne Stellen in Beethovens Werken heraus und klopft sie auf ihre übergeordnete Bedeutung hin ab, stellt Bezüge her, ordnet sie vor dem Hintergrund der Geistesgeschichte ein. So erkennt er etwa im Beginn der Sonate op. 110 einen Signalcharakter, der den Anfängen der Fünften und Sechsten Sinfonie gleicht: „[Diese Geste] steht für den sehnsüchtigen Ruf: ‚Ist da jemand?‘ Die Antwort erfolgt freilich erst im Finale, wenn sich der Sehnsuchtsruf zum Thema einer tröstlichen Fuge wandelt.“ Denn zwei Töne in dieser Fuge nehmen das Ruf-Intervall wieder auf, „während die fünf nachfolgenden Töne die befreiende Bejahung signalisieren: ‚Ja, da ist jemand!‘“ Geck hat die Hör-Lupe zur Hand genommen und deckt an Einzelstellen Erkenntnisse auf, über die man durchaus auch streiten darf. Es ist ein mit 180 Seiten (inklusive eines Gast-Beitrages von Peter Schleuning und eines Gesprächs mit dem Autor) relativ knapp gehaltenes Buch, doch sehr persönlich einerseits, in einigen Thesen erfreulich forsch – und immer entdeckerfreudig.
Darstellungen in der bildenden Kunst
Mit Werner Busch hat Geck, der 2019 verstorbene Dortmunder Emeritus, noch einen weiteren Band herausgegeben: „Beethoven-Bilder“. Hier werden Beethoven-Darstellungen in der bildenden Kunst beleuchtet und diese verraten einiges über die zeitgenössische und posthume Rezeption des Komponisten. Ein Buch, das den Blick über den Tellerrand hinaus wagt und gleichzeitig Ansätze liefert, inwieweit Beethoven aus eigener Kraft an seinem Selbst-Bildnis mitgewirkt hat.
Zu den erfreulichen Publikationen gehört zweifellos das tiefgründige Buch von Hans-Joachim Hinrichsen „Ludwig van Beethoven – Musik für eine neue Zeit“. Ausgangspunkt für eine Reihe von Thesen und Erkenntnissen ist die Kant-Rezeption Beethovens: „Hat Kant auch auf ihn gewirkt, ohne dass er ihn gelesen haben müsste? Kann man sich Beethoven, der kein Universitätsstudium absolviert hat […] als kompetenten Leser schwierigster philosophischer Literatur vorstellen?“ Hinrichsen beginnt geradezu eine Odyssee, deren einzelne Etappen sich mehr und mehr verdichten und schließlich als Gesamtbeweis dienen sollen. Von zentraler Bedeutung sind dabei Beethovens Bonner Jahre. Hinrichsen verweist auf die dortige Lesegesellschaft und auf einzelne Kant-belesene Stipendiaten des kurfürstlichen Hofes. Vielleicht geht der eine oder andere Schluss zu weit, dennoch: Dieser Band ist zweifellos eine Bereicherung.
Fragmentarischer Blick
Zuletzt ein Ausflug in die Fiktion. Albrecht Selge hat einen Beethoven-Roman geschrieben, dessen Titel „Beethovn“ bereits als verstecktes Programm dient: Es ist ein Buch wie ein Literaturspiel, manchmal gut versteckt, manchmal schnell zu entlarven. Selge zeigt gerade am Beginn einen Beethoven, den man nicht greifen kann, der sich immer entzieht. Von daher kann und will man Beethoven vielleicht auch gar nicht in der Totalen erfassen. Dieses Buch lebt von seinen Anspielungen, von fiktiven Synchronizitäten und Anachronismen – und liefert auf diese Weise einen immer wieder gebrochenen, fragmentarischen Blick auf Beethoven. Vielleicht liegt darin ein Schlüssel für die Beethoven-Rezeption im 21. Jahrhundert.
- Julia Ackermann, Melanie Unseld (Hg.): BEETHOVEN.AN.DENKEN. Das Theater an der Wien als Erinnerungsort, Böhlau Verlag, Wien 2020, 214 S., € 23,00, ISBN 978-3-205-20960-7
- Kirsten Jüngling: Beethoven. Der Mensch hinter dem Mythos, Propyläen, Berlin 2019, 304 S., € 24,00, ISBN 978-3-549-07484-8
- Matthias Henke: Beethoven. Akkord der Welt. Biographie, Carl Hanser Verlag, München 2020, 432 S., € 26,00, ISBN 978-3-446-26578-3
- Beethovens Welt, hrsg. v. Siegbert Rampe (Das Beethoven-Handbuch, Bd. 5), Laaber Verlag, Laaber, 662 S., € 98,00, ISBN 978-3-89007-475-7
- Martin Geck: Beethoven hören. Wenn Geistesblitze geheiligte Formen zertrümmern, Reclam, Stuttgart 2020, 184 S., Notenbsp., € 18,00, ISBN 978-3-15-011252-6
- Werner Busch/Martin Geck: Beethoven-Bilder. Was Kunst- und Musikgeschichte (sich) zu erzählen haben, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Berlin 2020, 167 S., € 29,90, ISBN 9783761825068
- Hans-Joachim Hinrichsen: Ludwig van Beethoven – Musik für eine neue Zeit, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Berlin 2019, 386 S., Abb., € 39,99, ISBN 978-3-7618-2072-8
- Albrecht Selge: Beethovn, Rowohlt, Berlin 2020, 240 S., € 22,00, ISBN 978-3-7371-0068-7