„Hier steht der Wandrer nun, verwirrt und zweifelhaft, wohin den Schritt er lenken soll.“ Und auf einmal: Hoffnung, „der Schimmer eines nahen Lichts“. So erlebt der Wanderer in Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ den Winter. Ganz anders, mehr als zwanzig Jahre später, der Wanderer in Schuberts „Winterreise“ nach Textvorlagen von Wilhelm Müller. Bei Schubert ist das Licht schlicht eine Chimäre: „Nur Täuschung ist für mich Gewinn!“ Hier Erlösung (Haydn), dort Illusion (Schubert).
„Täuschung“ heißt denn auch das 19. Lied in diesem Zyklus. Es basiert, musikalisch gesehen, auf einem Walzer. Doch die scheinbar liebliche Dreiviertel-Seligkeit entpuppt sich als Todeswalzer. Zufall? Nein, denn historisch betrachtet ist der Walzer ein zweideutiges „Echo der Urbanität“, wie Autor-Sänger Ian Bostridge in seiner neuen Studie über die „Winterreise“ feststellt. Er führt verschiedene Dokumente an, wonach das Tanzfieber im Wien des frühen 19. Jahrhunderts nicht nur Vergnügen und Lebens-Elixier, sondern sogar Todes-Ursache sein konnte – durch den massiv aufwirbelnden Staub, der den Lungen zusetzte. Tänze, die in der Fastenzeit als aufrührerisch galten und die Ordnungshüter auf den Plan riefen, zählten zu Schuberts Lieblings-Gattungen – in der „Winterreise“ wird daraus ein Totentanz.
Historische Brücken
Dieses Beispiel ist bezeichnend für dieses Buch. Vergleiche, historische Brücken, mutige Deutungen, Analogien – Ian Bostridge lässt uns die „Winterreise“ neu erleben. Naturwissenschaft, Kunsthistorie, Philosophie, Literaturgeschichte, Psychologie, Musikwissenschaft, alles wird hier auf filigrane Weise miteinander verknüpft. Der Sänger, der Hexen-promovierte Historiker, hat sich von allen erdenklichen Seiten Schuberts Zyklus genähert und macht den Leser immer wieder staunen über Dinge, die unserem nebligen historischen Bewusstsein von heute entgangen sind.
Einfaches Beispiel: Im Lied „Die Post“ erklingt im Klavier der Ruf des Posthorns. Romantisiert, verbindet sich schon im 19. Jahrhundert das Horn mit einem lieblichen Ruf aus tiefen Wäldern. Schon im „Lindenbaum“ ist dem „Winterreise“-Hörer das Horn erstmals begegnet. Doch jetzt, am Beginn des zweiten Teils dieses Zyklus, ist der Hintergrund ein anderer: Die Postkutsche, von der bei Schubert die Rede ist, also die Postkutsche der 1820er-Jahre, war ein „Repräsentant der Modernisierung, ein schnelles, zweckmäßiges, effizientes Transportmittel“. Bei Schubert also wird die Sehnsucht nach einem Brief von seiner Liebsten eingebettet in den Kontext einer „geschäftigen Welt“. Das wartende Lyrische Ich hingegen verharrt außerhalb dieser geschäftigen, zivilisierten Welt, isoliert, einsam, verstoßen. So prallen also hier zwei Welten aufeinander – nichts ist es mit dem idyllischen Horn-Ruf, wie er gemeinhin assoziiert wird.
Unverhofftes an jeder Ecke
Bostridge schreitet in seinem Buch, wie der Winterreisende, von Lied zu Lied, doch das ist auch das einzig Vorhersehbare. Denn ansonsten wartet an jeder Ecke Unverhofftes, Überraschendes. Lange ist zum Thema Lied kein so fulminantes, so bereicherndes, so vielschichtiges Buch mehr erschienen wie dieses. Ob zum Thema Einsamkeit, ob zur Erotik, ausgehend vom Lied „Erstarrung“ bis zu Wagners „Tristan“, ob der Stadt-Land-Kontrast wie in „Im Dorfe“, ob das Thema Religion („Mut“), ob die Neubestimmung des Zeitbegriffs („Auf dem Flusse“) oder die kunsthistorischen Ausflüge beim Thema Todesvogel („Die Krähe“) – Bostridge hat nicht nur genau und umfassend recherchiert, er findet auch sprachlich die geeigneten Mittel, um seine Ergebnisse nicht trocken-gelehrig, sondern in einer lebendigen, anschaulichen Sprache zu vermitteln, die sicher auch der Übersetzerin Annabel Zettel mitzuverdanken ist. Seine hohe Anschaulichkeit erreicht Bostridge einerseits durch unverhoffte Querlinien, die er stimmig begründet, andererseits durch eine unverkrampfte Art, die Besonderheiten von Schuberts Partitur in Worte zu übersetzen; schließlich spart er eingestreute persönliche Anekdoten und Anmerkungen nicht aus; etwa hat ihn in Teenager-Jahren der „Lindenbaum“ eher verstört – und prompt landet er bei der berühmten Madeleine-Szene aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Wie das zusammenhängt? Nachlesen.
Man möchte dieses Buch nicht zusammenfassen, man muss es lesen. Ian Bostridge zeigt eindrucksvoll, warum und wie uns ein Kunstwerk wie die „Winterreise“ auch heute noch fesselt, warum sie nicht fern liegt und von Ferne an unser Ohr dringt, sondern in ihren Botschaften bis in unsere Gegenwart reicht. Warum nur hat der Verlag kein Register angefügt?
- Ian Bostridge: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz, C.H. Beck, München 2015, 408 S., Abb., € 29,95, ISBN 978-3-406-68248-3