Udo Bermbach: Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Metzler Verlag, Stuttgart 2011, XII, 508 S., Abb., Notenbsp., € 39,95, ISBN 978-3-476-01884-7
‚Teutonen-Verherrlichung‘, der Antisemit Wagner, sein Theater als ‚National-Heiligtum‘, folglich das ‚braune Bayreuth‘ mit Hitler am Fenster des Festspielhauses, also ‚Von Wagner zu Hitler‘– bis heute kursieren derartige Urteile über und Scheinbeweise gegen Person und Werk Richard Wagners. Allen so Denkenden sind nun Bermbachs gut lesbare, intellektuell anspruchsvolle 500 Seiten als Pflichtlektüre zu verordnen. Doch das gewichtige Buch erspart Wagner-Verehrern wie -Kritikern Meter und Kilos schwerstverdaulicher Wagner-Literatur aus den Jahren 1870 bis 1970. Durch 100 Jahre vielfältig vernebelter Rezeption schlägt Bermbach aufklärerisch glasklare, argumentativ überzeugende Schneisen hin zu einem Werk, das weiterhin künstlerisch vielfältig interpretierbar bleibt, aber ebenso vielfältig pseudo-intellektuell umgebogen und missbraucht wurde.
In unseren Zeiten des lügenbefrachteten Plagiats und der nass-forsch unverfrorenen Aufweichung diesbezüglicher Maßstäbe führt Bermbach die Tugenden wissenschaftlich seriösen Arbeitens vor: auf profunder Quellenkenntnis sich arbeitsaufwändig durch Jahrzehnte beziehungsweise Jahrgänge geistig verquaster, nationalistisch schwitzender, dazu sprachlich oft wulstend schwulstender Sekundärliteratur zu klar nachvollziehbaren, republikanischen Kultur-Urteilen durchzuarbeiten. In zehn inhaltlich überlegt ausgewählten Kapiteln – die auch einzeln lesbar sind – untersucht Bermbach zentrale Stränge der Wagner-Rezeption. Zunächst werden die wichtigsten Wagner-Biographien untersucht. Da es zentral um die deutsche Wagner-Biographik geht, bleibt der Brite Ernest Newman außen vor, doch von Glasenapp (1894) bis Westernhagen (1956) belegt Bermbach das selektive Betonen von Einzelzügen, die zunächst ein konservatives, dann nationales, bald völkisch-nationales, schließlich ein nationalsozialistisches Wagner-Bild zeichnen. Speziell am Beispiel der meistgelesenen, bis 1979 nachgedruckten Westernhagen-Biographie zeigt Bermbach, wie parallel zur Verdrängungshaltung der Adenauer-Epoche nun ein gänzlich unpolitisches, an der Antike orientiertes Wagner-Bild die breite Zustimmung des ehemals bestimmenden, nun politisch korrumpierten Bildungsbürgertums fand. Erst 1980 in der BRD mit Gregor-Dellins Biographie, zuvor mit Hans Mayer in der DDR sieht Bermbach den „ganzen Wagner“ zutreffend dargestellt.
Parallel dazu hat Bermbach erstmals die einflussreichen „Bayreuther Blätter“ von 1878 bis 1938 (!) detailliert durchforstet: von Wolzogens und Chamberlains Verstiegenheiten über zunehmend „unterkomplexe“ Interpretationen bis in den unerträglich zu lesenden braunen Sprach-Sumpf. Die Herausbildung eines „Bayreuther Gedanken“ gegen die demokratische Politik, der Gedanken-Wust um „Regeneration“ hin zu einer Bayreuther Theologie, gipfelnd in einem „arischen Christentum“ und der nach zwei Jahren in Paraguays Urwald scheiternden Genossenschaftsutopie „Nueva Germania“ – all diese neuen Ergebnisse zeigen, wie die Erbe-Verwalter Wagners ursprüngliche Vorstellungen, vor allem aber seine kunst-politisch eindeutigen Ziele, allmählich umakzentuiert haben. Erkennbar wird das große Versäumnis der Linksintellektuellen Deutschlands: den Demokraten und Revolutionär Wagner samt seiner fundamentalen Kritik an Politik, Staat, Institutionen, Kirche, bürgerlicher Gesellschaft und Industriekapitalismus gegen die Vereinnahmung von Rechts zu verteidigen, also die Aussagen Wagners in den „Züricher Kunstschriften“ (1849–51) und weiter bis in seine letzen Jahre ins öffentliche Bewusstsein zu rücken – was Bermbach in seinem „Wahn des Gesamtkunstwerks“ von 2004 (siehe nmz online) getan hat. George Bernhard Shaws „Wagner-Brevier“ von 1907 und Bernhard Diebolds „Revision“ von 1928 blieben folgenlos: politische Implikationen in Wagners „Ring“ wurden strikt abgelehnt; die „Meistersinger“, die ja ohne jede Stadt-Staatsform den Primat der „Kunst“ vor Politik und Reich propagieren, gar als „Nationaloper“ einseitig vereinnahmt. Erstaunlich dagegen, dass die Figur Siegfrieds aus Bayreuth gerade nicht als arischer Übermensch interpretiert wurde. Dann weist Bermbach anhand einer präzisen Analyse von Hitlers Äußerungen zu Kultur überzeugend nach, dass entgegen den Führer-Auftritten in Bayreuth und den Inszenierungen der Reichsparteitage grundlegende Diskrepanzen zu Wagners Kulturvorstellungen bestanden – und somit die Autoren der Linie „Hitlers Wagner – Wagners Hitler“ falsch liegen. Andererseits weist Bermbach dem „Neu-Bayreuth“ von 1951 bis in die 60er-Jahre nach, dass sich allzu viele personelle Kontinuitäten finden. Erst durch Autoren wie Adorno, Mayer, Bloch, durch die Regisseure Friedrich, Herz, Kupfer und dann vor allem Chéreau sieht Bermbach Wagner in seinen kunstpolitischen Zielen verstanden und dargestellt. Bermbachs fundierte Analysen zeigen, wohin ideologische Verbiegungen führen: zu Fehlentwicklungen, deren Ergebnisse nur schwer wieder abzutragen sind. So liest sich dieser beeindruckende Schlussband von Bermbachs Wagner-Büchern auch wie eine bittere Reise durch über einhundert Jahre verquaste deutsche Geistes- und Kulturgeschichte am Beispiel unserer einzigen Theaterinstitution von Weltgeltung.