Ein bezeichnendes Bild: Da sitzt einer „auch für mehr als zehn Stunden mit einer Bibel, einem Lunchpaket und seinem Mobiltelefon in den Fluren vor den entscheidenden Amtsstuben“ und lässt sich „von keiner Macht der Welt zur Aufgabe zwingen.“ Dieser Mann, dem die Kraft attestiert wird, die Welt zu verändern und dem gar das Jesuswort „Lasset die Kinder zu mir kommen…“ in den Mund gelegt wird, ist José Antonio Abreu. Ihm und seinem Lebenswerk, an dem er trotz gesundheitlicher Einschränkungen bis zum heutigen Tag weiterarbeitet, haben Michael Kaufmann und Stefan Piendl nun ein Buch gewidmet.
An ihrer uneingeschränkten Begeisterung lassen die beiden Autoren, und das macht den Band so sympathisch, keine Zweifel aufkommen. Ihr Wunsch, etwas vom Enthusiasmus, den die venezolanische Jugendorchesterbewegung El Sistema wohl in jedem entfacht, der einmal unmittelbar mit ihr in Berührung gekommen ist, auch einer Leserschaft jenseits interessierter Fachkreise zu vermitteln, ist auf jeder Seite spürbar. Dafür nehmen sie eine gewisse hagiografische Färbung in Kauf, die auch im „Wunder“ des Buchtitels ihren Ausdruck findet.
Obwohl es sich bei dieser Publikation also nicht um ein reines Sachbuch handelt – ein solches wäre aus einem musikpädagogischen und einem sozialpolitischen Blickwinkel gleichermaßen willkommen – enthält es doch eine Fülle fundierter, aus eigenen Recherchen gewonnener Informationen, wie sie bisher im deutschsprachigen Raum nicht verfügbar waren.
Besonders Abreus Werdegang bis zur sagenumwobenen ersten Probe des Orquesta Sinfónica Juvenil Juan José Landaeta am 12. Februar 1975 in einer Tiefgarage von Caracas hält mit seiner Berücksichtigung des politischen, sozialen und musikalischen Umfelds wichtige Informationen darüber bereit, aus welcher Situation und Motivation heraus der studierte Ökonom und Musiker seine Vision zu realisieren begann. Über deren primäre Aufgabe war er sich, das machen die Autoren deutlich, zunächst nicht vollständig im Klaren, bis er den bis heute ebenso zentralen wie revolutionären Kerngedanken von der Verschränkung musikalischer und sozialer Ziele formulieren konnte. Diesen paraphrasieren die Autoren wie folgt: „Sowohl der Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten als auch die Armut sollen bekämpft werden; das Ausbildungssystem muss so angelegt sein, dass man es als ein soziales und der Gesellschaft dienendes System begreifen kann.“ Aus dieser Verschränkung ergibt sich dann auch das pädagogische Konzept: „Die musikalische Ausbildung soll von dem bestehenden theorielastigen System umgestellt werden auf ein Konzept, das gemeinsames Musizieren vom Ausbildungsbeginn an vorsieht.“
So faszinierend es im weiteren Verlauf ist, den sich von hier aus anbahnenden, vielen Widrigkeiten trotzenden Erfolgsweg nachzuvollziehen, so deutlich werden die Schwierigkeiten für den beispiellosen Triumphzug, den die venezolanischen Ensembles im In- und Ausland antreten, stets neue Darstellungsformen zu finden. Da defilieren die Stardirigenten am Leser vorbei, die sich vom Sistema begeistern ließen, es werden die herausragenden Talente porträtiert, die – allen voran Gustavo Dudamel – internationale Karriere gemacht haben, und immer wieder werden sensationelle Konzertauftritte geschildert.
Erfreulich aber, dass die Rolle der Jeunesses Musicales und besonders diejenige des 2007 verstorbenen Detlef Hahlweg gebührend gewürdigt wird. Ihre Neugier und ihr Vertrauen in das musikalische Potenzial des Sistema schufen erst die Voraussetzung für den ab dem Jahr 2000 intensiv erfolgten Austausch mit deutschen Institutionen wie den Berliner Philharmonikern, dem Bonner Beethovenfest oder dem Deutschen Musikrat
Ausgezeichnet ist dann das Kapitel über Anne Fitzgibbon und ihr nach einem längeren Venezuela-Aufenthalt ganz neu aufgestelltes New Yorker Musikprojekt HARMONY. Hier wird an einem hochinteressanten Einzelschicksal deutlich, wie die Begegnung mit dem Sistema eine Persönlichkeit formen, einen neuen Lebensentwurf zur Folge haben kann.
Eine weitere Stärke des Buches ist, dass Kaufmann und Piendl auch kritische Punkte ansprechen: das diffizile Verhältnis zum Staatspräsidenten Chavez, das konservative Repertoireverständnis und schließlich auch die Desorganisation innerhalb des mittlerweile beinahe die Ausmaße eines Ministeriums erreichenden Apparates, die gerade auch die Auslandskooperationen gefährdet und wohl auch ein Grund dafür ist, dass etwa die Partnerschaft mit den Berliner Philharmonikern mehr oder weniger eingeschlafen ist.
Gleichzeitig beweisen die Autoren bei einer weitergehenden Interpretation dieses Sachverhalts viel Gespür für das Selbstverständnis des Projekts und für die Denkweise Abreus, wenn sie nämlich mutmaßen, dass die organisatorischen Hürden ein Stück weit auch als Probe aufzufassen seien: So wie Abreu und seine Mitstreiter – Kaufmann und Piendl sind durchaus zuversichtlich, dass eine Generation nachgewachsen ist, die Abreus Arbeit eines Tages selbstständig wird fortführen können – zahllose Probleme gemeistert haben, so müssten eben auch Interessierte aus dem Ausland sich auf das Wagnis Venezuela voll und ganz einlassen. Dass sich dies aus fachlicher wie menschlicher Sicht lohnt, daran lassen die Autoren keinen Zweifel.
Michael Kaufmann, Stefan Piendl: Das Wunder von Caracas. Wie José Antonio Abreu und El Sistema die Welt begeistern, Irisiana, München 2011, 245 S., € 19,99, ISBN 978-3-424-15079-7