Russische Musik erfuhr seit den 1870er-Jahren eine reiche und vielfältige Rezeption in Frankreich. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit russischer Musik war unbedingt prägend für die Musikkultur Frankreichs. An der Musik russischer Komponisten, in erster Linie der Vertreter der nationalrussischen Gruppe der „Fünf“, faszinierte ihr Sinn für Klang und Klangfarbe, ihr schöpferisch-souveräner Umgang mit der Tradition sowie ihre Rückbindung an die Volksmusik und Folklore.
Das Interesse an der Musik Russlands, das etwa durch Konzerte mit russischer Musik bei den Pariser Weltausstellungen stimuliert wurde (vgl. Kapitel II: Ereignisse und Kontinuitäten), kam auf in einer Epoche sich verschärfender politischer Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland. Schien vor diesem Hintergrund die Orientierung an der deutsch-österreichischen Musik nicht wünschenswert, bot sich die russische Musik als gleichsam alternativer „Gegenpart“ an, in den – über einfache Sympathie hinaus – auch allerlei hochgesteckte Erwartungen hineinprojiziert wurden. Russische Musik erwies sich unter den gegebenen Umständen als vergleichsweise „geeigneterer Leitfaden, um sich aus einer neuen Perspektive den unterschiedlichen Sphären und Akteuren in der Herausbildung einer französischen musikalischen Identität zu nähern“ (S. 28).
Der Begriff „französische Musik“ (auch „die französische Musik“; analog dazu „russische Musik“) könnte ebenso wie die Vorstellung „französischer musikalischer Identität“ auf den ersten Blick schlecht abstrakt anmuten – schon allein deshalb, weil die Ausführungen auf Paris und die klassische Darbietungsmusik konzentriert sind –, doch das ist der Autorin bewusst und so gelingt es ihr, sich über das notwendige Maß an Theorie hinaus vor anfechtbaren Verallgemeinerungen zu hüten (zur Konstruktion „musikalischer Identität“ siehe Kapitel I: Metropole und Identität). Die Ausführungen im Weiteren sind um Anschaulichkeit bemüht: Kapitel III (Bühnen und Intérieurs) ist den Aufführungsorten und -umständen russischer Musik und deren Repertoire gewidmet. In den Blick genommen werden sowohl öffentliche Symphonie- und Kammerkonzerte als auch Privatkonzerte (der Salons). In diesem Kontext kommt unter anderem das Wirken der Sängerin Marie Olénine-d’Alheim (1869–1970) zur Sprache, die sich tatkräftig für das Werk Modest Mussorgskys, insbesondere die Lieder, einsetzte. Sie war die erste, die eine „explizit modernistische Lesart“ der Musik Mussorgskys einforderte und auf die innere künstlerische Verwandtschaft zwischen Debussy und Mussorgsky hinwies (S. 156).
Kapitel IV (Musikalien und Meinungen) thematisiert die Rolle der Pariser Musikverlage und der Musikpublizistik. Letzterer kam eine wichtige Mittlerfunktion zu, die sie teils auch meinungssteuernd einsetzte. Großes Gewicht hatten die Artikel von César Cui, der ebenso erfolgreich wie geschichtswirksam ein explizit nationalrussisches Narrativ installierte – unter Zurückdrängung der „westlichen“ Linie der russischen Musik Anton Rubinsteins und Petr Tschaikowskys. Kapitel V (Kunstmusik und Folklore) weist russische Bezüge in Werken französischer Komponisten nach. Diese erstrecken sich ebenso auf literarische Vorlagen (z.B. in der Adaptation des epischen Antar-Stoffes durch Henri Maréchal) wie auf Anleihen russischer Volkslied-Idiome. Die Art der Bezugnahme liefert dabei stets Hinweise darauf, was als spezifisch „russisch“ empfunden und begriffen wurde. Russische Musiker ihrerseits stellten sich in der Ausführung „ihrer“ Musik zielgenau auf die Erwartungen des französischen Publikums ein; ein Beispiel ist das Agrenjew-Chorensemble, das mit russisch-folkloristischen Musikprogrammen Erfolg hatte. Kapitel VII (Kanon und Gegenkanon) sieht die Identitätsfindungsprozesse der französischen Musik an russische Vorbilder gekoppelt. „Die russische Musik ist [...] der einflussreichste Gegenkanon der französischen Musikkultur [...] sowohl für Entscheidungen auf der kompositorisch-gattungsästhetischen Ebene als auch für prinzipielle Positionierungen. Die Möglichkeit, Alternativen zur deutschen Tradition oder zu als obsolet empfundenen Bereichen der eigenen Tradition im Fremden wiederzufinden und dadurch bestätigt zu sehen, führte zu einer besonders gründlichen Aneignung dieses Repertoires“ (S. 236). Dieser Befund wird mit Blick auf damalige französische Darstellungen russischer Musik und Musikgeschichte ausdifferenziert. Gemeinhin sehen diese in der Orientierung an der russischen Musik – bezeichnenderweise reduziert auf die nationalrussische Richtung – einen substanziellen Impuls zur Überwindung des Wagnerismus (nicht nur deutscher Provenienz) und ein generelles Erneuerungsversprechen für die französische Musik.
Diese Auffassung ist bis in die 1910er-Jahre geläufig, ungeachtet einer wachsenden Einsicht in die Begrenztheit und Geschichtlichkeit der Prinzipien der Gruppe der Fünf. Mit der avantgardistischen Revolte von Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ (Paris 1913) werden dann schließlich neue und übernationale Deutungsansätze für das Selbstverständnis der französischen Musik dringlich. Zu dieser Zeit ist „das Selbstbewusstsein […] auf französischer Seite […] so gefestigt, dass die immanenten musikalischen Kriterien, ohne mit einer „deutschen Tradition belastet zu sein, für die emanzipierte französische Musik in Anspruch genommen werden können“ (S. 301).
Das Buch zeichnet sich durch großen Fakten- und Materialreichtum aus; es ist als Studie zur Rezeption und kompositorischen Wirkung russischer Musik in Frankreich ohne Konkurrenz. Auch wenn die Kernthese einer strukturellen Abhängigkeit der französischen Musikentwicklung von der nationalrussischen Musik ein wenig forciert wirkt, lässt sich im Detail sehr viel Anregendes und Bedenkenswertes finden, das als Ausgang weiterer Untersuchungen, etwa vertiefter Werkanalysen, dienen könnte. Nützlich sind die Anhänge des Buchs, bestehend aus Auflistungen der Aufführungen russischer Werke in Paris von circa 1868 bis 1914, einer Zusammenstellung wichtiger französischer Quellentexte und Materialen (ohne Übertragung ins Deutsche) sowie einer Zeittafel zur allgemeinen Orientierung.
- Inga Mai Groote: Östliche Ouvertüren. Russische Musik in Paris 1870–1913 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung, Bd. 19), Bärenreiter-Verlag, Kassel u.a. 2014, 410 S., € 39,95, ISBN 978-3-7618-2366-8