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Die Kraft, nach vorn zu schauen

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Zhu Xiao-Meis nüchterne Erinnerungen an die Kulturrevolution
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„Musik führt Menschen zusammen, anders als Politik oder Religion. Sie weckt die Liebe zur Menschheit, die stärker ist als alles andere, und hilft, alle Schwierigkeiten zu meistern. Wie Liebe verlangt Musik bedingungslose Hingabe. Erst heute habe ich verstanden, was ich meinen Erfahrungen während der Kulturrevolution zu verdanken habe.“

Von diesen Erfahrungen erzählt Zhu Xiao-Mei in ihrer Autobiographie „Von Mao zu Bach“. Als sie Schülerin an einem Konservatorium in Peking ist, bricht 1976 die Kulturrevolution aus, durch die Mao nach dem Scheitern des „Großen Sprunges nach vorn“ seine uneingeschränkte Macht wiederherstellen will. Die folgenden zehn Jahre sollen ein Kampf gegen die Intellektuellen des Landes werden, ein Kampf gegen die Kultur, gegen Kunst, Literatur und Musik, ob chinesisch oder nicht. Aus dem Konservatorium wird zunächst ein Konservatorium ohne Musik, später ohne Unterricht und schließlich ohne Schüler. „Musik ist zu einer Nebensache geworden, jetzt zählt allein die politische Überzeugung“, schreibt Xiao-Mei und gesteht, dass auch sie selbst von dieser Ideologie überzeugt war. Sie leugnet nicht, zur Spionin ihres Vater geworden zu sein, ihrer „bourgeoisen“ Großmutter gemäß den Vorschriften kurz vor ihrem Lebensende keine Beachtung geschenkt zu haben und eine Freundin denunziert zu haben, die daraufhin öffentlich Selbstkritik üben musste und geschlagen wurde. Xiao-Mei schildert die Ereignisse der fünf Jahre, die sie als Kulturschaffende in Arbeitslagern fern von jedem musikalischen Klang oder einem Klavier verbringt, mit einer Klarheit und Nüchternheit, die betroffen macht. Und immer wieder kehrt sie zurück zu der einen Sache, die sie diese schlimme Zeit durchstehen lässt und ihr Kraft gibt, nach vorn zu schauen: der Musik, die, auch wenn sie nicht greifbar ist, so doch im Kopf der jungen Chinesin immer eine große Rolle spielt.

Nicht umsonst riskiert sie alles, um ihren besten Freund, ihr erstes Klavier, bis zur Unkenntlichkeit in Kartons verpackt, in das Arbeitslager zu schmuggeln. Mit 30 Jahren schafft sie es schließlich, ihre Heimat, die sie in ihrer freien künstlerischen Entwicklung so eingeengt, sie zehn Jahre lang zur treuen Dienerin eines Regimes gemacht hatte und dessen überzeugte Gegnerin sie jetzt ist, zu verlassen und zunächst in die USA, später dann nach Frankreich zu emigrieren. Trotz der vielen Schwierigkeiten, von sprachlichen Barrieren über Geldmangel bis hin zur fehlenden Aufenthaltserlaubnis, bleibt Xiao-Mei ihrem Ziel treu, Pianistin zu werden.

Besonderen Eindruck hinterlassen die Passagen, in denen die heute 60-Jährige mit spürbarer Begeisterung von einzelnen Werken spricht – allen voran den Goldberg-Variationen, die sie „als größte musikalische Begegnung meines Lebens“ empfindet. „Sie enthält alles, was ich zum Leben brauche. Die erste Variation macht mir Mut. Die humorvolle zehnte lässt mich lächeln, zur dreizehnten singe ich, ihre  musikalische Stimme beruhigt mich wie keine Musik zuvor“, schwärmt sie. Nicht umsonst hat Xiao-Mei ihr Buch, wie die Variationen, in dreißig Kapitel mit einer Aria am Anfang und am Schluss eingeteilt. Xiao-Meis Autobiographie ist nicht nur die spannende Erzählung einer Lebensgeschichte, sondern auch eine Einladung an uns, die wir ständig von Musik umgeben sind, diese nicht als Selbstverständlichkeit anzunehmen.

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