Die Hypothese, dass Hits im Popmusik-Genre ihre Erfolgsgene auf Grund eines nebulös-komplexen Zusammenwirkens aller strukturellen und vermarktungstechnischen Aspekte a priori in sich tragen könnten und dass hier eben vielleicht auch dem Faktor „glücklicher Zufall“ sein Platz im Wirkungsgefüge zugesprochen werden sollte, diese Hypothese würde einen folglich bis zu einem gewissen Grade aus der Verantwortung entlassen, der speziellen Morphologie des Hits auf analytische Weise zu Leibe rücken „zu müssen“.
Unstrittig stecken – neben offensichtlicher Bequemlichkeit – weitere Reize in dieser Hypothese: Zum einen bliebe der Mythos des Besonderen und Unerklärlichen erhalten, würde also Songwriter, Produzenten und sonstige an der Genese eines Hits Beteiligte den kunsthandwerklichen Niederungen routinierter Produktionsabläufe ein Stück weit entrücken.
Feinmaschiges Parameternetz
Zum anderen müsste man sich nicht mit der Frage befassen, warum letztlich doch immer wieder eine Hierarchie in Form von Chartlistungen entstehen kann, warum also der eine Nummer-eins-Hit über den anderen steht, obwohl doch die Ingredienzien und ihre Zubereitung genauestens geklärt zu sein scheinen. Volkmar Kramarz versucht in seinem Buch genau Letzteres, nämlich mit Hilfe eines feinmaschig strukturierten Parameternetzes der Erkenntnis näherzukommen, warum der eine (gute) Song einer unter Vielen zu bleiben verdammt ist, warum der andere aber den Hit-Olymp zu erklimmen in der Lage ist. So gesehen mangelt es dem Titel der Veröffentlichung etwas an Trennschärfe, geht es doch genau darum, wie oder warum ein Song Kraft seiner Wirkung und der Resonanzen, die er beim hörenden/zahlenden/votenden Publikum auslöst, Hit-Status zu erreichen vermag. Präziser wäre also vielleicht, „Warum Songs zu Hits werden“, oder aber in einem eher antizipierenden Sinne, „Warum Hits Hits sind“.
Der Autor geht im Rahmen seiner Studie in jeder Hinsicht auf minuziös-feingliedrige Weise vor: Die Diskussion des Popmusikbegriffes und seine Verknüpfung mit Erfolgsmodellen führen zur Darstellung der analytischen Vorgehensweise im Rahmen ihrer Kategorien und Parameter und in der Folge zur Verknüpfung dieses Theoriemodells mit den ausgewählten Beispielsongs. Deren Zusammenstellung ist zum einen hinreichend aktuell, zum anderen auch stilistisch erfreulich vielseitig. In einem weiteren Schritt werden experimentelle Aspekte bis hin zum Einbezug von MRT-Untersuchungen bezüglich der Hirnaktivität beim Hören standardisierter harmonischer Progressionen in das Gesamtkonzept miteinbezogen. In der abschließenden Bewertung und Diskussion besticht vor allem das dreisäulige Parametermodell (invariabel –halbvariabel–variabel), auf dessen Basis abschließende Aussagen und deren Beleg zur Physiognomie eines Hits gemacht werden.
Kaleidoskopartige Wirkung
Bei Lektüre des Buches entfaltet sich eine kaleidoskopartige Wirkung in folgendem Sinne: So wie die oben bereits beschriebene Struktur im Mikro- und Makrobereich des Aufbaus beeindruckt und dem Leser auch viele neue Zusammenhänge zu erschließen vermag, so oft ertappt man sich auch bei der Selbstreflexion, vieles des Gelesenen als Selbstverständlichkeiten zu verbuchen, deren detaillierte Darstellung ein gewisses Maß an Redundanz aufweist.
Dies ist aber kein echter Kritikpunkt, da es sich zwangsläufig aus der wissenschaftlich-systematischen Erschließung eines Betrachtungsfeldes ergibt, dass neben „Orchideen eben auch Nutzpflanzen zu bestimmen sind“ – Kramarz deklariert seine Studie ja ausdrücklich als ebensolche und nicht als Essay oder dergleichen. Und auch wenn der Autor abschließend in vielen Bereichen zu Ergebnissen kommt, die von vornherein zu erwarten waren, ist deren empirische Bestätigung ein großer Verdienst. Zumal das Buch, aufbauend auf einem weitverzweigten, zeitlich weit zurückreichenden literarischen Hintergrund, über die reinen Untersuchungsmodelle hinaus viel Lesenswertes zu bieten hat. So erfreut zum Beispiel die genreübergreifende Verknüpfung des Aspektes „Unkonventionalität“ mit den Ideen der „Musique concrète“, den elektronischen Pioniertaten eines Stockhausen und den frech-fröhlichen Tonbandbastelstunden der Beatles – und vieles mehr.
„Warum Hits Hits werden“ lässt einen nachdenken, vertieft vieles, kann aber nach der Lektüre sicher keine Erfolgsgarantien für angehende Hitproduzenten und Songschreiber bieten. Ist vielleicht auch besser so. Womit vorsichtig auf die Anfangshypothese verwiesen sei.
Volkmar Kramarz: Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik. Eine Untersuchung erfolgreicher Songs und exemplarischer Eigenproduktionen, transcript Verlag, Bielefeld 2014, 390 S., Abb., € 37,99, ISBN 978-3-8376-2723-7