Hélène Grimaud: Wolfssonate, Blanvalet, München 2005,
256 S., € 19,90, ISBN 3-7645-0196-0
Wird Zeit, dass wir alle, die wir uns noch nicht getraut haben, unser Leben schriftlich auszubreiten, mal darüber nachdenken, dies nachzuholen. Die wirklich Wichtigen dieser Welt haben es ja vorgemacht. Ledergrins Bohlen und dieses hyperaktive Kind namens Daniel K. sind gewichtige prominente Kronzeugen; aber auch in der Klassik-Branche grassiert mittlerweile die Sitte, sich in Buchform zu Gott, der Welt und ein bisschen auch zur Musik zu äußern. Midori etwa, der geigende Jungspund, hat eine Autobiografie verfasst. Oder Hélène Grimaud, Frankreichs pianistischer Stolz, deren Vaterlandsliebe doch nicht tief genug sitzt, als dass es sie daran gehindert hätte, nach Nordamerika auszuwandern.
Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Grimaud in Frankreich ihre Lebensbeobachtungen unter dem Titel „Variations sauvages“. Da sich die Franzosen bekanntlich leicht entflammen lassen, spendeten sie ihrer Hélène nicht nur Beifall, sondern auch viel Aufmerksamkeit, indem sie ihr dieses Buch über hunderttausendfach abkauften. Und Bernard Pivot, Frankreichs Reich-Ranicki, trompetete TV-weit seine Anerkennung über die Bildschirme für diese „faszinierende Autobiografie, die viel mehr ein Roman ist als die meisten Romane des Jahres“. Um diesen Erfolg zu wiederholen, hat man sich für die deutsche Übersetzung einen gleichermaßen einprägsamen wie Grimaud-nahen Titel ausgesucht und das knapp 250-seitige Werk „Wolfssonate“ getauft.
Eine Autobiografie im klassischen Sinne ist dieses Buch sicher nicht. Grimaud lenkt ungefähr die Hälfte ihrer Ausführungen auf das Thema Tiere. Unvermittelt schweift sie ins Jahr 1532, als in ihrer Heimatstadt Aix-en-Provence ein Gutachten erschien, wonach schädliche Tiere vor ein ordentliches Gericht gestellt werden sollten. Gehenkte Ochsen, erschossene Esel, hingerichtete Sauen. Das ist natürlich nicht in Ordnung, und Grimaud protestiert gegen diese Massaker, als seien sie just heute geschehen. Tiere sind ihre Leidenschaft, und dieses Buch dient ihr als Forum, diese Passion breitzuwalzen beziehungsweise sie gegen imaginäre Kritiker zu verteidigen. Selbst Hildegard von Bingen findet in ihren Überlegungen Platz, die sich Anfang des 12. Jahrhunderts über die Natur der Wölfe ausgelassen hat. Grimaud breitet all diese Zitate und Betrachtungen großzügig um einen autobiografischen Kern: Als sie eines Tages in Florida einer Wölfin begegnet, kurvt ihr Leben in eine andere Bahn. Wölfe werden ihr privates Glück und zugleich ihr öffentliches Vermarktungs-Zeichen. 1997 gründet sie nahe New York ein Wolf-Pflege-Zentrum.
Doch geht es in diesem Buch auch um Grimauds Verhältnis zur Musik, um ihre ersten pianistischen Erfahrungen, ihre Vorlieben, ihre Lehrer. Petite-Hélène war eine Revoluzzerin. Sie führt vieles an, was ihr quersaß und wogegen sie protestierte, innerlich wie äußerlich. Sie galt als „Un-Gehorsam“, „Un-Bezähmbar“, „Un-Zufrieden“, „Un-Berechenbar“. Um ein authentisches Bild vom Menschen Grimaud zu vermitteln, scheut sie sich vor nichts. Ziemlich schneidig urteilt sie über ihre Mutter. Auch Teile der französischen Presse werden nicht gerade mit Anerkennung überhäuft. Daneben berichtet sie von ihrem Unterricht bei Leon Fleischer und den Hilfestellungen, die ihr Gidon Kremer und Martha Argerich angedeihen ließen.
Die Musik wurde für Grimaud zur Flucht, sie war „eine unmittelbare Kommunikation mit der Offensichtlichkeit“. Bis heute sei sie „ein Parfum“ geblieben. Grimaud liebt eine poetische, bildreiche Sprache: „Auf seine Weise erweckt jeder Interpret, wenn er inspiriert ist, durch sein Spiel die verlorenen Paradiese wieder zum Leben, weil im Reich des Heiligen Geistes alle Engel Musiker sind. […] Der Engel hallt wider im Wind der Musik: Er reißt den Interpreten in seinem Atem mit sich, weit weg.“ Von den Komponisten ist es vor allem Chopin, für den sie sich begeistert. Sie liebt die „männliche, mitreißende Klarheit“ seiner Musiksprache. Dann folgt wieder eine ihrer halb philosophischen, halb sprachverliebten Aussagen: „Er befreit Welten, deren Klang er besitzt.“ Chopins Musik besitze „ozeanische Tiefen“, „Gipfel, hart wie Diamant, Insel von Riesen“. An Rachmaninow schätzt sie, „dass er stets mutig zu seinen Überzeugungen stand“, denn „er hat sich gegen die Sprache seiner Zeit gestellt“. Er habe dem Klavier „all seine Möglichkeiten geschenkt, eine beklemmende Schönheit auszudrücken“. Grimaud legt sich ungern fest, sie sieht immer das Ja-Aber, sie ist bis heute eine Revoluzzerin geblieben; eine, die glaubt sich durchboxen zu müssen, indem sie vieles anders sieht.
Dieses Buch ist voller Eigenwilligkeiten, sprachlich und inhaltlich. Hélène Grimaud hat eine Autobiografie geschrieben, die einerseits mundtot macht und andererseits zu Widersprüchen anregt – genau wie Grimaud, die Pianistin. Dass sie von der (literarischen) Figur des Doppelgängers so fasziniert ist, kann nach der Lektüre dieses Buches nicht verwundern: Grimaud wird sich selbst mitunter zur Schattenfrau.