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Die Werte für die Nachkommen erhalten

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Ein Kompendium für die Musik des 20. Jahrhunderts von Ingo Metzmacher
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Ingo Metzmacher: Keine Angst vor neuen Tönen. Eine Reise in die Welt der Musik, Rowohlt, Berlin 2005, 192 S., € 16,90, ISBN 3-87134-478-8

Der Erscheinungszeitpunkt für Ingo Metzmachers lockeres Kompendium über die Musik des 20. Jahrhunderts hat nicht besser gewählt werden können. Just seit Jahresbeginn feiert München, nein, feiert der ganze Freistaat Bayern, mit Staatsakt im Herbst und aufeinander abgestimmten Orchesterkonzerten mit allem Pi-Pa-Po den hundertsten Geburtstag von Karl Amadeus Hartmann. Dessen Lebenswerk weist ein eher schmales aber klanglich recht wuchtiges Œuvre auf. Fast wichtiger ist Hartmann wegen seiner bis heute existierenden Münchener Konzertreihe musica viva, mit der er unmittelbar nach Kriegsende einen ästhetischen Neubeginn einläutete und unzähligen jungen Komponisten ein Forum schaffte.
Metzmacher ist bei den Feierlichkeiten in München mittenmang, arbeitete über Jahre darauf hin. Zweimal am Pult der Münchener Philharmoniker und einmal an dem des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wird er Hartmann dirigieren. Dessen Werke sind für Metzmacher der Inbegriff von redlicher Bekenntnismusik schlechthin. Denn, so der Autor: „Jede große Musik ist Bekenntnismusik.“

In dem knapp 200 Seiten umfassenden Bändchen ist der Beziehung zur Musik und dem Menschen Hartmann selbstredend ein eigenes Kapitel gewidmet. Bei dem Ersteinspieler aller acht Sinfonien, damals noch mit den Bamberger Sinfonikern für die EMI, und Weltreisenden in Sachen Hartmann wundert es fast schon, dass er sich bei seinem ästhetisch-menschlichen Vorbild auf genau die meist zehn Seiten umfassenden Monographien beschränkt, die auch allen anderen Sternen am persönlichen Komponistenhorizont gewidmet werden. Die Liste liest sich wie ein who is who der Musik des 20. Jahrhunderts (freilich außer Pfitzner, dem „Anti-who“). Charles Ives und Gustav Mahler sind die Großväter aller Klänge, in der Genealogie gefolgt von Debussy, Messiaen, Schönberg, Varèse, Stockhausen, Nono, eben Hartmann, Strawinsky und Cage. Geschickt hat Metzmacher den Komponisten zusammenfassende Begriffe übergeordnet, die er essayistisch erläutert. Mit den Kategorien „Zeit“, „Farbe“, „Natur“, „Geräusch“, „Stille“, „Bekenntnis“ und „Spiel“ schafft es Metzmacher, dem Leser, ohne dass der es eigentlich merkt, die Musik des letzten Jahrhunderts begreifbar zu machen. Metzmachers Kunst als schreibender Dirigent liegt hier in der unmittelbaren Anbindung der Musik an die persönlich erlebte und reflektierte Musikgeschichte.

Die kann auch Familiengeschichte sein. Geschildert werden die Ferienexkursionen mit der ornithologisch interessierten Mutter – „das Fernglas war ein heiliges Gepäckstück“ –, um eine Brücke zu Olivier Messiaens Transkriptionen der Rufe von Steinkauz und Nachtigall zu schlagen. Erste Begegnungen mit lokalen Komponisten prägen das junge Talent ebenso: „Auf dem Schreibtisch in mehreren Lagen Partiturseiten, Rechnungen, Briefe, Probenpläne, wie konnte man sich hier nur zurechtfinden. Ich war erschlagen.“ Es erschlug ihn dennoch nicht, wie wir wissen. Vielmehr prägten Metzmacher neben Hartmann vor allem Luigi Nono und John Cage. Den dirigentischen Ritterschlag bekam er schließlich mit der Aufführung von Luigi Nonos kompositorischem Vermächtnis „Prometeo – Tragedia dell’ ascolto“ (Tragödie des Hörens) bei den Salzburger Festspielen 1993, drei Jahre nach Nonos Tod. „Als er erschien, geschah etwas mit mir. [...] Wenn er den Raum betrat, veränderte sich alles“, beschreibt Metzmacher seine Faszination gegenüber dem Venezianer. Der „Prometeo“ wurde für Metzmacher eben keine Tragödie des Hörens, sondern ein Triumph des Willens im Leisen. Nono habe ihn auf der Suche nach seiner ganz persönlichen Mission mit dem „Prometeo“ herausgefordert. Als Nono starb war das „der traurigste Tag“ in seinem Leben.

Metzmacher kann von Resistenza-Kämpfer Nono aus eine direkte Linie zum inneren Emigranten Hartmann ziehen: „Er hat in den dunkelsten Jahren unserer Geschichte die Werte der großen deutschen Musiktradition hochgehalten und so für die Nachkommen bewahrt.“ Der Satz könnte allerdings auch von Thielemann sein. Für Metzmacher war Hartmann indes eine Initiation nicht nur wegen dessen kreatürlicher Expressivität. Hartmann habe ihm ermöglicht, sich in einer Zeit als Deutscher zu definieren, in der man deswegen noch ziemlich beargwöhnt wurde.

Schließlich John Cage: „Er ging wie ein Heiliger durch die Welt und ließ sich nicht beirren.“ Von ihm lernt Metzmacher, immer wieder bei Null anzufangen, die Schönheiten wahrzunehmen, „die alle schon da sind.“ Mit Stockhausen hätte es noch schöner werden können. Nach zahlreichen gemeinsamen Projekten wollte der Meister von Metzmacher eine Entscheidung für sein Werk. „Das sei im Grunde wie heiraten.“ Metzmacher wollte nicht, sah in Stockhausens mikroskopisch durchgestalteten Partituren auch keine gestalterischen Möglichkeiten für einen Dirigenten seines Formats. „Ein Dirigent, wenn überhaupt, wird nur noch zur Koordination gebraucht,“ schreibt Metzmacher. Diese Art Gefolgschaft war nicht sein „Ding“, wie man etwas salopp formulieren könnte.

Metzmacher schickt sich an als Katalysator zeitgenössischer Musik das Erbe von Hermann Scherchen, dem Mentor Hartmanns und Michael Gielen zu übernehmen. Dann wäre er in seiner „Reise in die Welt der Musik“ angekommen. Das Logbuch liegt schon vor. Vielleicht war es kein Zufall, dass Metzmacher bei seiner Frankfurter Lesung in der Deutschen Ensemble Akademie seine Hemdfarbe Orange passend zum rot-orangen Buchdeckel gewählt hatte. In dessen Kolorit könnte wiederum eine Botschaft stecken. Der bekennende Fußballfan Metzmacher wechselt dieses Jahr als Chefdirigent an das Opernhaus Amsterdam. Das hat allerdings kein eigenes Orchester.

Stattdessen darf Metzmacher unter nicht weniger als fünf renommierten Orchestern Hollands für jede der meist zehn Neuproduktionen der Spielzeit auswählen, darunter das Concertgebouw Orkest und die Niederländische Philharmonie. Sportsmann Metzmacher wird damit der Nationaltrainer der holländischen Spitzenorchester und gewissermaßen ein Marco van Basten der Oper. Der ist übrigens laut Vertrag zu einer „attraktiven Spielweise“ verpflichtet. Mit seinem Büchlein kann er sich auch gut den Niederländern empfehlen.

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