Schostakowitschs Musiksprache (Schostakowitsch-Studien, Bd. 13), hrsg. von Bernd Feuchtner, Wolke Verlag, Hofheim 2023, 510 S., € 49,00, ISBN 978-3-95593-106-3.

Schostakowitschs Musiksprache (Schostakowitsch-Studien, Bd. 13), hrsg. von Bernd Feuchtner, Wolke Verlag
„Drücken Sie unbedingt etwas aus!“
Vielleicht eignet sich das Werk von Dmitri Schostakowitsch mehr als jedes andere dazu, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Musik der Vermittlung fixer ideologischer Botschaften dienen könne oder ob sie nicht eher, wenn sie von Rang sei, eigentlich wortloser Gestaltung und der Entfaltung persönlichen Ausdrucks gelte.
Dazu, dass Schostakowitschs Werk oft mit außermusikalischen Botschaften etikettiert wird, hat der Komponist, beispielsweise mit einem Brief über seine siebte Sinfonie, mitunter selbst beigetragen. Geschrieben hatte er die Siebte, die den Beinamen „die Leningrader“ erhielt, anlässlich des im Juni 1941 stattgefundenen Einmarschs deutscher Truppen in seine Heimatstadt St. Petersburg, der auf der Stelle zu ungezählten Erschießungen der Bevölkerung und deren Verschleppung in deutsche Arbeitslager geführt hatte. Und in einem späteren Brief von Schostakowitsch an den Genossen Rudolf, einen Leipziger Musiklehrer, über seine Siebte findet sich ein Beispiel für die gängige „Etikettierung“: „Das Marschthema aus meiner Sinfonie verkörpert den Einfall des aggressiven deutschen Faschismus.“

Schostakowitschs Musiksprache (Schostakowitsch-Studien, Bd. 13), hrsg. von Bernd Feuchtner, Wolke Verlag
Beiträge zu differenzierter Schostakowitsch-Rezeption
Bernd Feuchtner, ehemals Operndirektor und Chefdramaturg in Heidelberg, Salzburg und Karlsruhe, derzeit Intendant der Händel-Festspiele in Halle/Saale, hat nicht nur verschiedentlich bereits über den russischen Komponisten publiziert, um einer solchen allzu schlichten Etikettierung zu widersprechen, sondern in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft nun auch einen umfangreichen Band herausgegeben, für den er zahlreiche Musikwissenschaftler und Publizisten hat versammeln können, die uns davon überzeugen, dass uns die Musik dieses Komponisten zu einem ganz anderen Hinhören zwingt. An einer Stelle des Buchs heißt es wie ein Resümee dieser Beiträge: „Die Musik ist weder deutsch noch faschistisch noch russisch oder marsianisch. Es ist brillante Musik in genialer Form, die uns Fragen stellt.“ In diesem Sinn hatte Schostakowitsch seine jungen Kollegen nämlich immer wieder aufgefordert, unbedingt ihre Selbstständigkeit zu suchen: „Drücken Sie unbedingt etwas aus!“
Der Band geht auf eine Tagung zurück, die der Rezeption des Komponisten gewidmet war. Der polnische Komponist und Hochschullehrer Krzysztof Meyer macht den Anfang und wirft einen Blick auf die zurückliegenden hundert Jahre, in denen die Musik Schostakowitschs eine sehr unterschiedliche, aber immer herausragende Rolle gespielt hat.
Sein Lied „Die Heimat hört“ hatte es in der Sowjetunion zu größter Beliebtheit gebracht; Juri Gagarin hatte es während seiner ersten Erdumrundung gesungen. Die Propaganda hatte Schostakowitsch als „führenden sowjetischen Schöpfer“ und vorbildlichen Kommunisten dargestellt, was seine Rezeption im Westen naturgemäß erschwerte. Als 1979 durch die mittlerweile oft angezweifelten Darstellungen in Solomon Wolkows Schostakowitsch-Memoiren „Testimony“ bekannt wurde, dass er sich tatsächlich als Opfer des Stalinismus und eines verbrecherischen Regimes gesehen haben soll und Widerstand allein durch seine Musik zum Ausdruck hatte bringen können, war er im Westen rasch im Sinne althergebrachter Klischees zum politischen Märtyrer gemacht worden.
Musiker selbst aber hatten das freilich früher anders gesehen; Dirigenten wie Arturo Toscanini, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan führten ihn in New York, Wien oder bei den Berliner Philharmonikern auf. Der neue Band lädt ein, dieser Spur nun weiter nachzugehen – hat Schostakowitsch, wie Meyer feststellt, mittlerweile doch schon fast die Popularität Beethovens erlangt.
Vergleicht man in dem gewaltigen musikalischen Werk etwa die fünfte Symphonie mit der zehnten, so kommt einem die fünfte noch vor wie ein Rasseln mit Ketten, gegen die die Musik aufbegehrt und sich trotzdem ihrem Joch wieder fügt. Ganz anders die Zehnte, die von wunderbarer Abgeklärtheit zeugt, die dräuende Massenbewegungen zitiert, sie aber in vollkommener Beherrschtheit im Hintergrund lässt, sich ebenso Gehetztheit erlaubt wie Stille, in der ein zages Einzelinstrument seine Figuren entwickeln darf, die in sich hineinhorcht und, wenn der Ausdruck gestattet ist, inmitten heftigen Umzüngelt-Seins zu erhabener Standfestigkeit findet. Karajan, heißt es, hatte die Zehnte übrigens zu seiner Chefsache gemacht und sie sehr häufig aufgeführt, einmal sogar in Moskau.
Den Lesern dieses neuen, überaus detailreichen Buchs – die behandelten Aspekte in ihrer Vielzahl können hier nicht weiter genannt werden – dürfte es so wie dem Rezensenten selbst gehen – sie werden diese Musik mit neuer Aufmerksamkeit hören.
Der Herausgeber beschließt sein Vorwort mit einem nochmaligen Hinweis auf die Siebte Sinfonie: „Hitler – Stalin – Putin – wir hoffen, dass unsere ukrainischen und russischen Kolleginnen und Kollegen den Folgen von Krieg und Unterdrückung entkommen und wir bald wieder gemeinsam und friedlich über das debattieren können, was von all den untergegangenen Reichen bleibt: die Kultur.“
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