Nach alter Weisheit (wissen wir von Brecht) braucht es immer auch diejenigen, die „dem Weisen die Weisheit erst entreißen“. Im Rampenlicht stehen sie deshalb nicht. Dabei ist ihr Beitrag nicht unerheblich. Nicht selten sind sie es, die die Dinge in Gang bringen, mit ihren speziellen Fragen am Laufen halten, für ein vorzeigbares Ergebnis sorgen. Wie in diesem Fall. Mit der Monografie zu Leben und Werk des Komponisten und Exil-Forschers Juan Allende-Blin hat das Autoren-Duo Christian Esch und Frank Schneider eine Lücke geschlossen – pünktlich zum 90. Geburtstag des Künstlers am 24. Februar.
Nicht von vielen Künstlerviten lässt sich sagen, dass ihnen das Thema ihres Lebens in die Wiege gelegt war. Für Juan Allende-Blin trifft es zu. Als Jahrgang 1928 fällt seine Kindheit und Jugend in die Zeit der durch den Nationalsozialismus ausgelösten Emigration. Im Haus seiner musikliebenden, professionell mit Musik befassten Eltern in Santiago de Chile begegnen ihm die ausgebürgerten, die verjagten, die exilierten Künstler aus Europa. Auf einmal ist ein Thema da, eine Aufgabe, eine Vision. Ein Künstlerleben bekommt Orientierung.
Singulär
Man wünschte sich dieses Buch ganz oben auf den Schreibtischen der schreibenden, sendenden, planenden Musikfreunde, geht damit doch die Hoffnung einher, dass gerade die Namhaften unter den Konzert-Veranstaltern, den Festival-Kuratoren, den Verantwortlichen eines zuständigen Landesensembles in Nordrhein-Westfalen ihre letztlich nur schwer vermittelbare JAB-Zurückhaltung ebenso überdenken wie die Konjunkturen und Moden, denen eine zeitgenössische Musikpflege unterworfen ist. Die Lektüre des Bandes muss einen insbesondere darin bestärken, dass wir unser historisches Bewusstsein neu prüfen, den Blick schärfen für die Ausnahmen, für die künstlerischen Sonderwege der Moderne und für etwas, das nicht weniger aus der Mode gekommen scheint: Ethos, politische Haltung in der Kunst. Für all dies bietet der vorliegende Gesprächs- und Essay-Band reichlich Stoff. Wer mitgeht, vorbehaltlos, neugierig, wird am Ende mit einem Eindruck dessen belohnt, weshalb wir in Juan Allende-Blin, nach einem Wort des Musikologen Werner Klüppelholz (von den Autoren zu Recht im Vorwort des Bandes zitiert), einer „singulären Erscheinung im deutschen Musikleben“ begegnen.
Dass diese Begegnung möglich geworden ist, dafür seien die „Weisheits-Entreißer“ (um hier noch einmal Brechts Laotse-Gedicht anzubringen) „bedankt – sie haben sie ihm abverlangt“. Vor allem dem spree-athenischen Teil dieser Arbeitsgemeinschaft kommt das Verdienst zu, den Stein ins Rollen gebracht zu haben. Es war Frank Schneider, der die Deutschlandfunk Kultur-Redakteure Stefan Lang und Rainer Pöllmann davon überzeugen konnte, eine mehrteilige Gesprächsreihe mit und über den Komponisten Juan Allende-Blin ins Programm zu nehmen: sechs stattliche, zwischen Januar und März 2016 ausgestrahlte, reichlich musikgesättigte 90-Minuten-Sendungen zu Leben und Werk. Das Fundament für dieses Buch war gelegt: eine Künstlerbiographie in Gesprächen, in Essays.
Heroisch
Mit einem speziellen Sinn für den eigentümlichen Weg eines gebürtigen Chilenen, der im liberalen Haus seiner Eltern den aus Nazi-Deutschland verjagten Künstlern und Musikern begegnet: „Meine Eltern sprachen gern und oft Einladungen aus: an die Dirigenten Fritz Busch oder Erich Kleiber, an die Pianisten Ricardo Vines, Artur Rubinstein und Claudio Arrau.“ So lernt er sie kennen, die Großen der Zunft. Nicht aus der Perspektive der öffentlichen Karrieren dieser Künstler, die in den 1930er-Jahren ja zudem mit der für sie ungewohnten Erfahrung des Karrierebruchs fertig werden mussten. Der 15-, 16-Jährige, der bei seinem Onkel Pedro Humberto Allende-Saron, einem Professor am Konservatorium, seinen ersten Kompositionsunterricht erhält, entwickelt bald seine eigene Perspektive, seine eigene Fragehaltung, wodurch auf scheinbar Bekanntes, Gefestigtes auch für den bewanderten Leser neues Licht fällt.
Am Ende beschließt Juan Allende-Blin – bestärkt, ermuntert vom Musiker-Erzieher Hermann Scherchen – in jenes Land einzuwandern, das Fritz Busch, Erich Kleiber, Artur Rubinstein, Claudio Arrau und viele andere kaum 20 Jahre zuvor verlassen hatten, verlassen mussten. Auch in der Nachbetrachtung hat dieser Entschluss eines 23-Jährigen etwas Heroisches, etwas Waghalsiges. Man hält den Atem an.
Ungeheuerlich
Welche Risiken damit verbunden waren, sollte der junge Juan Allende-Blin bald erfahren, als er sich 1951 in Hamburg niederlässt. Es ist das Jahr der Uraufführung der Schönberg-Oper „Moses und Aron“. Im Buch ist das ein Kapitel, das exemplarisch steht für die Zumutungen, denen ein unbeirrt antifaschistisch gesinnter Künstler in der jungen Bundesrepublik ausgesetzt gewesen war. Das Nachleben des Nationalsozialismus liegt wie ein Schatten, wie ein Fluch auf dem Land. Kontaminiert davon auch die „Moses und Aron“-Proben in Hamburg 1951. Juan Allende-Blin wird Augen-, wird Ohrenzeuge der antisemitischen Häme und Hetze gegen Harry Hermann Spitz, seit 1947 Leiter der Musikabteilung des NWDR. Wie durch ein Wunder hatte Spitz eine langjährige Haft in den berüchtigtsten KZs des SS-Staates überlebt, konnte im Frühjahr 1945 nach Schweden emigrieren, leitete ab 1946 in Stockholm das Philharmonische Orchester, wurde von britischen Kontrolloffizieren nach Hamburg berufen, gründete 1951 am NWDR die Reihe „das neue werk“, nur um sich über kurz oder lang in einer Schlangengrube wiederzufinden: „Die Intrigen gegen Spitz mehrten sich. Höhepunkt wurde ein Gespräch unter Orchestermusikern in der Kantine des Funkhauses; sie gehörten zu den Antisemiten, die ich selber während meiner Tätigkeit im NDR erlebt hatte. Diese Herren unterhielten sich über Spitz als einen Betrüger, der sich seine KZ-Nummer in Sankt-Pauli habe eintätowieren lassen. Und dieses Gespräch hörte ein Staatsanwalt, der zufällig (oder auch nicht) ebenfalls in der Kantine war. Er stellte Antrag wegen Betruges.“
Neben dem Erschrecken über solche und andere Ungeheuerlichkeiten, die einem noch heute Scham wie Zornesröte ins Gesicht treiben, bewirkt die Lektüre dieser Gespräche und Essays auf der anderen Seite zugleich eine nicht minder starke Bewunderung: Für die Gedächtnisleistung, aus der sich diese Erinnerungs-Chronik speist, für die Beharrlichkeit, mit der Juan Allende-Blin in den folgenden Jahrzehnten seinerseits den Spuren der verfemten Komponisten und Künstler nachgehen wird, Bewunderung schließlich auch für die Geradlinigkeit eines Lebensweges, dem tatsächlich ein „politischer Impuls“ inhärent ist. Einer, der aus Juan Allende-Blin einen Forscher hat werden lassen, der seinen Blick, seinen Radius dann weit über die NS-Verfolgten Komponisten ausdehnen wird.
Der Gesprächs- und Essay-Band über und mit Juan Allende-Blin funktioniert wie ein Spiel mit Spiegeln, schauen wir darin doch nicht nur auf einen Jahrhundertzeugen, sondern mit den Augen eines Jahrhundertzeugen zugleich auf ein Jahrhundert voller unheilbarer Risse. Letztere werden vorgeführt von einem Buch, das einer epischen Kamerafahrt gleicht; mit Weitwinkel bietet sie Panoramen an, um im nächsten Moment in die Naheinstellung zu wechseln. Die großen Linien: Kindheit und Jugend in Chile, Nachkriegsjahre in Hamburg, Anwaltschaft für verfemte Komponisten, die Jahre in Essen als Komponist und Lebenspartner des Organisten und Komponisten Gerd Zacher, schließlich die große Rückblende: Gedanken über Zeit und Zeitgenossen.
Das bedeutendste Verdienst, das sich der unermüdliche Sammler verwischter Spuren Juan Allende-Blin erworben hat, bekommt im Buch eine vergleichsweise nüchterne Überschrift: „Rekonstruktion eines Opernfragments“. Gemeint ist nichts Geringeres als die Rekonstruktion der nur als Fragment zurückgebliebenen Debussy-Oper „La chute de la maison Usher“. Detektivisch, beharrlich trägt Allende-Blin die Schnipsel zusammen. Am Ende urteilen Fachleute: „Wie von Debussys eigener Hand“.
Unerledigt
Zwischen den Gesprächsteilen stehen kommentierende Essays. Deren Autor, Christian Esch, lässt uns damit in die Werkstatt des Komponisten und Musikdenkers Juan Allende-Blin blicken. Thematisiert werden künstlerische Milieus im Umfeld der Webern-Nachfolge, die Sonderstellung des Komponisten innerhalb der Avantgarde, der Einfluss von Zeitumständen, die Bedeutung des Radios im Werkschaffen sowie das Unausgestandene, Unaufgeführte im Spätwerk, etwa Juan Allende-Blins große Abschiedsgruß-Kantate „Salutatis abeuntis“. Vermerk: Noch zu erledigen. Herausgekommen ist ein vom Kamprad-Verlag liebevoll aufgemachtes Buch ohne modische Attitüden mit einem verlässlichen Personenregister, einer Werkliste, zwei Dutzend völlig unbekannter Fotografien sowie (ganz und gar überraschend, unwillkürlich fragt man sich: Gibt es da noch mehr?) einigen wenigen Zeichnungen des vielseitig begabten Musikers aus den 1950er-Jahren. Deren letztes Blatt ist betitelt „Dialog“: Zwei Figuren, die aus dem Bild herausblicken. Unfertig. Wie ihr Dialog. Er muss andauern, damit dieses Gespräch, das wir sind, fertig werden kann.
- Immer auch ein politischer Impuls. Juan Allende-Blin im Gespräch mit Christian Esch und Frank Schneider, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg 2017, 216 S., Abb., € 39,80, ISBN 978-3-95755-612-7