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Durchflutung dunkler Kanäle

Untertitel
Mittelalterliche Musik in der Neuzeit wieder entdeckt
Publikationsdatum
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Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit, Böhlau, Köln/Weimar 2003, 426 S., Ill., Notenbeispiele, € 44,90, ISBN 3-412-15202-1

Heine hat wieder Haare auf den Zähnen. Diesmal geht es ihm um die Wiederentdeckung des Mittelalters. In seiner „Romantischen Schule“ bekrittelt er 1836, dass die französischen Schriftsteller sich des Mittelalters lediglich in der Absicht bedient hätten, „um sich ein interessantes Kostüm für den Karneval auszusuchen. Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine Mode und sie diente nur dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen.“ Auch in Deutschland liege das Mittelalter „nicht vermodert im Grabe“, vielmehr werde es „manchmal von einem bösen Gespenste belebt und tritt am hellen, lichten Tage in unsere Mitte und saugt uns das rote Leben aus der Brust“. Aller Lästerei zum Trotz: Falsch liegt Heine nicht. Die Romantik wurde zum Motor für die Wiederentdeckung des Mittelalters. Annette Kreutzinger-Herr hat sich dieser Tatsache angenommen und sie unter der Frage, wie das Mittelalter auf die Musik der Neuzeit ausgestrahlt hat, in einem rund 400-seitigen Buch erörtert. Ein findiges Buch, ein gescheites Buch, gründlich durchdacht und akribisch recherchiert – doch nicht frei von einigen Fragwürdigkeiten. Die Komposition des Bandes ist auf Transparenz hin angelegt und lässt dennoch einige Wünsche offen. Aufgrund der Vielgestaltigkeit des Themas wären Zusammenfassungen am Schluss der jeweiligen Kapitel (die überdies mit wenig hilfreichen Überschriften versehen sind), zumindest aber am Ende des Buches wünschenswert gewesen und hätten dem Leser interessante Orientierungshilfen geboten. Wer sich einen großen thematischen Bogen über die Einflüsse mittelalterlicher Stoffe und Vorlagen auf die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts erhofft, braucht das Buch gar nicht erst aufzuschlagen. Der Autorin geht es nicht um Motiv-Vernetzungen. Wem also an der musikalischen Rezeption eines Dante oder an Bühnen-Adaptionen mittelalterlicher Volksbücher gelegen ist, wird hier nicht glücklich. Auch Richard Wagners opulente Auseinandersetzung mit dem Mittelalter wird lediglich exemplarisch und auffällig komprimiert abgehandelt. Warum eigentlich?

Stattdessen beschreitet die Autorin immer wieder überraschende Nebenpfade, indem sie an unvermuteten Stellen auf die Mittelalter-Rezeption bei Glazunow, Respighi oder Rheinberger hinweist. Kreutzinger-Herr breitet ein engmaschiges, über die Musik hinausführendes, kulturgeschichtliches Netz aus, indem sie vor allem die Literatur als zweite Disziplin in ihre Untersuchung integriert und anhand der Schriften von Tieck, Wackenroder & Co. deutlich macht, wie, wann und warum das Mittelalter im 19. Jahrhundert einen so zentralen Platz einnehmen konnte. Dass sie dabei mit den Brüdern Grimm und Ludwig Uhland grundlegende Antreiber dieser Bewegung unerwähnt lässt, zeigt allerdings, dass ihr Netz nicht engmaschig genug ist. Auch die musikalischen Mittelalter-Vertiefungen von Carl Orff und Hans Pfitzner spielen keine nennenswerte Rolle. Dafür liefert die Autorin ein exzellentes Kapitel über die Wiederentdeckung Hildegards von Bingen in den 90er-Jahren. Sie hat sich bei Bernd Alois Zimmermann umgetan und bei Sofia Gubaidulina, um dann einen Bogen bis zu Gerhard Wolfstiegs „Zwölf Miniaturen“ für Stimme und Orgel und Richard Southers Pop-Version zu schlagen. An diesen Stellen wird’s richtig spannend, die praktische Auseinandersetzung mit der fernen Zeit greifbar.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Mittelalter-Aufarbeitung in der historischen Musikwissenschaft, als Grundlage dienen Schriften von Ludwig, Burney, Kiesewetter, Coussemaker bis hin zu Adler und Riemann. Es gelingt ihr, die vielen dunklen Kanäle der Musikgeschichtsschreibung zu fluten, sie mit Licht zu versorgen und so die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik auf ein fundiertes theoretisches Fundament zu stellen. Auf praktischer Ebene wird vor allem im Anhang nachgefüttert; bedeutend auch der Überblick über die Verbreitung der Musik Machauds, hilfreich die Dokumentation von Konzertprogrammen zwischen 1914 und 1927. In der Mitte des Buches bietet der knapp 50 Seiten umfassende Bildteil bestes Anschauungsmaterial.

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