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Ein Fach in seiner Vielgestaltigkeit

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Das „Kompendium der Elementaren Musikpädagogik“ überzeugt durch Offenheit
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Mit dem zweibändigen Kompendium „EMP kompakt“ unternehmen Michael Dartsch, Claudia Meyer und Barbara Stiller erstmals den Versuch, die vielen Strömungen, Ansätze und Positionen des vergleichsweise jungen Fachs „Elementare Musikpädagogik“ in ihrer Vielgestaltigkeit nachzuzeichnen und begrifflich zu bündeln.

Das zweibändige Werk von insgesamt fast tausend Seiten besteht aus einem Lexikon, in dem in über achtzig monografisch gestalteten Einzelartikeln die zentralen Begriffe, Instrumentarien und Diskurse des Faches präzise dargestellt werden, und einem Handbuch, das in acht umfänglichen Kapiteln die wesentlichen Dimensionen und Grundlagen der EMP entfaltet. Umfasst das Lexikon, an dem zahlreiche weitere Fachvertreter*innen mitgewirkt haben, im Vergleich zum Handbuch aufgrund der Vielzahl der behandelten Themen deutlich mehr Seiten, so gehen die Handbuchkapitel stärker in die Tiefe. Über den mit einem Lexikon verbundenen Anspruch bündiger und prägnanter Information hinausgehend, zeichnet das Autor*innenentrio hier zentrale Entwicklungslinien und Aufgabenstellungen des Faches nach und lässt die Elementare Musikpädagogik als eine lebendige und in ihren zentralen Diskurslinien keineswegs in Stein gemeißelte Disziplin erscheinen – ein Tatbestand, der auf ihre unbedingte Aktualität verweist!

Angesichts dieser Gegenwartsorientierung und Zukunftsoffenheit mag die – doch immerhin mögliche – Erwartung, in diesem Kompendium mit einer prägenden Grundidee des Faches konfrontiert zu werden, die dann den Leitfaden einer historischen und inhaltlichen Systematik bildet, enttäuscht werden. Und das ist gut so.

Statt einen theoretisch-ideellen Kern der EMP herauszupräparieren (womöglich noch in hagiografischer Referenz an den oftmals als Ahnherrn des Faches bezeichneten Carl Orff), wird das Handbuch mit einer umfänglichen und mehr als ein Drittel des Buches umfassenden geschichtlichen Darstellung der musikalischen Elementarausbildung in Deutschland von der Weimarer Republik bis heute eröffnet (mit der intensiven Berücksichtigung der DDR-Geschichte wird in diesem Zusammenhang überdies einem Desiderat begegnet, das viele musikpädagogische Überblicksdarstellungen leider noch immer kennzeichnet). Die Entscheidung für einen primär historischen Ansatz erscheint keineswegs zufällig: basierend auf dem einsichtigen Befund, dass die EMP keine späte ‚Erfindung‘ ist, sondern gerade im praktischen Berufsfeld an „bewährte Traditionen“ anknüpfen konnte (S. 13), tritt das Fach vor allem als ein geschichtlich gewordenes hervor, an dessen heutiger Gestalt viele Persönlichkeiten mit ihren je unverwechselbaren Biografien und Bezugspunkten mitgewirkt haben. Frappierend ist in diesem Zusammenhang die Idee, diese Fachgeschichte nicht aus quasi objektiver Vogelschauperspektive heraus darzustellen, sondern sie – anknüpfend an Verfahrensweisen der oral history – durch zentrale Protagonist*innen selbst rekonstruieren zu lassen. Dass das auf diese Weise entstehende Gesamtbild durchaus Widersprüche und Brüche aufweist, ist keineswegs negativ zu sehen, sondern trägt ganz im Gegenteil dazu bei, eine eigenständige Diskursgeschichte der EMP – zweifellos eine wichtige Grundbedingung, um überhaupt von einem Fach sprechen zu können – überhaupt in Erscheinung treten zu lassen. Dieser Diskursgeschichte werden letztlich sogar Positionen zugerechnet, die seinerzeit die heutige Bezeichnung EMP dezidiert ablehnten. Wenn Karl-Heinz Zarius – ohne Zweifel einer der ganz wichtigen Vertreter der gerade in Nordrhein-Westfalen geläufigen Fachbezeichnung „Allgemeine Musikerziehung“ (AME) – auch im Rückblick noch daran festhält, dass es sich bei AME und EMP um „prinzipiell unterschiedliche Konzepte“ handelt (S. 96), ist es für die Autor*innen kein Hinderungsgrund, die Ansätze der AME (und ebenso der Musikalischen Früherziehung [MFE], der Musikalischen Grundausbildung [MAG], der Musikalischen Elementarerziehung [MEE] und der Rhythmik) als wichtige „Anregungen“ zu verstehen, die in das „eigene Konzept“ der EMP „integriert wurden“ (S. 97). In dieser Integration liegt in meinen Augen gerade keine Vereinnahmung, sondern vielmehr umgekehrt das Bestreben, die Geschichte der EMP als einen fluiden Prozess zu verstehen, der wesentlich durch die dezentral in ihren jeweiligen Regionen arbeitenden Akteur*innen mit ihren je eigenen Akzent- und Differenzsetzungen geprägt wurde. Dass sich am Ende, spätestens seit der Bologna-Reform, an den Musikhochschulen die Fachbezeichnungen EMP und Rhythmik (bzw. die Kombinationsbezeichnung „Rhythmik-EMP“) durchgesetzt haben, mag zumindest von Seiten der EMP her auch fachpolitische Gründe haben, hat doch gerade der „Arbeitskreis Elementare Musikpädagogik“ (AEMP) durch zahlreiche Fachkongresse und hochschulpolitische Aktivitäten in hohem Maße zur Vernetzung und Kommunikation unter den Akteur*innen beigetragen und insofern die Rolle eines die unterschiedlichen Strömungen überspannenden Daches angenommen.

 Diese Offenheit prägt auch das Kapitel, in dem es um die anthropologischen Dimensionen der EMP geht (und das bezeichnenderweise nicht „Anthropologische Grundlagen“ heißt). Ausgehend von dem Gedanken der „negativen Anthropologie“ wird hier gerade nicht nach einem feststehenden Bild vom Menschen gefragt, sondern vielmehr jene Aspekte (eben Dimensionen) beleuchtet, die „für Erziehungs- und Bildungsprozesse von Menschen als konstitutiv betrachtet werden.“ (S. 166) Wer hier klare Plädoyers erwartet, wird möglicherweise überrascht sein, dass es weniger um positive Bestimmungen (Menschenbilder) geht, als vielmehr um eine umfassende Sensibilisierung für Umgangsweisen mit Aspekten wie „Körper- und Leiblichkeit“, „Subjektivität/Individualität und Sozialität“ oder „Kulturalität“.

Und selbst dort, wo man am ehesten eine abgestufte Systematik erwarten könnte, im Bereich der Didaktik, wird ein grundsätzlicher Pluralismus vorausgesetzt, was dazu führt, dass – ausgehend von basalen Positionen der Allgemeindidaktik und der schulischen Musikdidaktik – anstelle eines lückenlosen didaktischen Gesamtentwurfs nur einige, freilich gewichtige, „Grundthesen“ erörtert werden, von denen vermutet wird, „dass sie in der Fachszene weitgehend geteilt werden.“ (S. 197)

Dies alles ist umso stärker zu würdigen, als es sich bei den Autor*innen des Kompendiums zugleich um wichtige Vertreter*innen des Fachs handelt, die mit jeweils eigenen Ansätzen die EMP wesentlich geprägt haben. Mehr noch: Obgleich die einzelnen Kapitel überdeutlich die individuelle Handschrift des/der jeweiligen Autor*in verraten, so entsteht doch an keiner Stelle der Eindruck eines losen Nebeneinanders unterschiedlicher Positionen – ein Hinweis darauf, dass die Plädoyers für Offenheit und Weiterentwicklung eben keine bloßen Lippenbekenntnisse sind, sondern die Fachkultur der EMP wesentlich prägen.

Die Modernität und Aktualität des Faches lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass es sich bei vielen der derzeit hochschulpolitisch diskutierten Themen (wie etwa „Weiterbildung“, „Künstlerische Forschung“, „lebenslanges Lernen“) um Fragestellungen handelt, die im Rahmen der EMP schon seit geraumer Zeit erörtert werden. Leser*innen des Kapitels „Studium, Fort- und Weiterbildung im Kontext hochschulpolitischer Überlegungen in der EMP“ können geradezu den Eindruck erhalten, dass die EMP in vieler Hinsicht als ein Trendsetter für die aktuellen Entwicklungstendenzen der Hochschulen fungiert. Ob die damit verbundenen Ansprüche an allen Standorten umgesetzt werden und inwieweit diese Vorreiterrolle in den hochschulischen Gremien und auf Seiten der RKM Gehör findet, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Die Kapitel des Handbuches sind auf äußerst dichte Weise mit den Einträgen des Lexikons vernetzt; so besteht die Möglichkeit, dass Leser*innen, die nicht nur schnell etwas nachschlagen wollen, sich in einer dichten „Über-Kreuz-Lektüre“ verfangen, indem sie vom Handbuch auf einschlägige Lexikonartikel springen, um dort zu weiteren Artikeln geleitet zu werden, die sie womöglich wieder an andere Stellen des Handbuchs zurückführen.

Viele Artikel des Lexikons werden auch Leser*innen, die nicht zur EMP-Community zählen, mit Gewinn lesen, da sie auf knappem Raum zentrale Einblicke auch in übergeordnete musikpädagogische Themengebiete erlauben, die erst gegen Ende des jeweiligen Beitrags auf die speziellen Bedingungen der EMP zurückgeführt werden.

Ein kleiner Wermutstropfen besteht im Fehlen eines Schlagwortregisters für den Lexikon-Teil. Trotz intensiver Vernetzung der einzelnen Themen und trotz zahlreicher Begriffe, für die es zwar keinen eigenen Artikel gibt, die aber doch als Begriffe genannt werden (inklusive des Hinweises, in welchem anderen Artikel dieser Begriff erläutert wird), können die Leser*innen nicht in jedem Fall im Voraus erahnen, zu welchen Aspekten sie möglicherweise auf entsprechende Artikel stoßen könnten. Dass es in einem EMP-Lexikon einen Artikel zum Elementarbegriff gibt, mag man vermuten; gilt das aber auch für einen Artikel zum Thema „Hochschulübergreifende Fachgremien“? In einer zweiten Auflage könnte dieser Mangel gewiss leicht behoben werden.

  • Kompendium der Elementaren Musikpädagogik. Lexikon und Handbuch, hrsg. von Michael Dartsch/Claudia Meyer/Barbara Stiller, Teil 1: Lexikon, Teil 2: Handbuch, Helbling, Innsbruck/Esslingen/Bern-Belp 2020, 655 + 344 S., Abb., Notenbsp., € 50,50, ISBN 978-3-86227-390-4

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