nmz 2000/10 | Seite 21
49. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Ein Kompendium mit Engpässen
Herausgeber Udo Bermbach will ein Jahrhundert Operngeschichte ausbreiten
Udo Bermbach (Hrsg.): Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten, 686 S., Verlag J.B. Metzler, 98 Mark /öS 716,-/sFr 89,-
Der erste Blick weckt mehr als Neugierde. Ein ganzes Jahrhundert Musiktheater zwischen zwei Buchdeckeln. Der Opernfreund reagiert erwartungsvoll und wertet den vorsichtig operierenden Erkenntnisanspruch als Indiz von Seriosität: „Zu vielfältig und gegenläufig sind die Tendenzen des Opernkomponierens, zu unterschiedlich und facettenreich die Inszenierungen auf den Bühnen, als dass sich eine bilanzierende Summe eindeutig ausweisen ließe“, dämpft Herausgeber Udo Bermbach im Vorwort die allzu hochfliegenden Erwartungen.
Wenn also „Bilanz“ und „Eindeutigkeit“ nicht erreichbar sind, wo liegen dann Ziel und Anziehungskraft dieses gewichtigen Kompendiums? Erklärtermaßen sind es die „wichtigsten Entwicklungen des Operntheaters im 20. Jahrhundert“, die Bermbach mit Hilfe seines Autorenteams „nachvollziehen“ will. „Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Oper in Deutschland“, fügt er hinzu und trifft eine keineswegs komplikationslose Vorentscheidung, mit der er manchen Lesern die Lektüre nicht gerade erleichtern wird, so wie er dadurch umgekehrt auch einigen seiner Autoren das Schreiben schwer gemacht haben dürfte. Dass die Oper im 20. Jahrhundert als Musiktheater einem in jeder Hinsicht grenzüberspringenden, fein gesponnenen Netz gleicht, das aus wechselnden Produktions- und Interpretationsgemeinschaften europäisch-internationalen Zuschnitts gewoben ist – dies sind Einsichten, die aus Bermbachs Operngeschichte an verschiedenen Stellen selbst gewonnen werden können.
Bermbach, Lehrstuhlinhaber für Politische Wissenschaften an der Hamburger Universität, hat zwischen 1997 und 1999 zwei Vortragsreihen organisiert, die die Keimzelle seiner groß angelegten Bestandsaufnahme bilden. Hier liegt zugleich die Erklärung für die auffällige Unabgestimmtheit der Darstellungsmethoden. Konventionell musikhistorische Ableitungen stehen neben politologisch-soziologischen Interpretationen, feuilletonistische und werkorientiert-philosophische Darlegungen neben der dezidiert persönlichen Bestandsaufnahme eines handverlesenen Komponisten wie Siegfried Matthus.
Der Herausgeber teilt seine Bestandsaufnahme in zwei Abschnitte. Der erste Teil umfasst in 14 Einzelbeiträgen eine Problemgeschichte des Opernschaffens in Deutschland seit Wagner sowie eine Art Länderreport zum Operngeschehen in Italien, Frankreich, Sowjet-Russland, Skandinavien und Nordamerika. Auch wenn bereits hier nach Auswahl und Gewichtung gefragt werden könnte – die im zweiten Teil des Buches in Einzelporträts vorgestellten Komponisten (Strauss, Schönberg, Berg, Schreker, Janácek, Britten, Schostakowitsch, Nono, Henze, Zimmermann, Rihm, Hölszky) führen zwangsläufig auf das Problem, das bei jeder Liste auftritt: Interessant ist, wer nicht draufsteht. Zum Beispiel Debussy. Ist dessen „Pelléas et Mélisande“ in seiner Singularität nicht mit Zimmermanns „Soldaten“ vergleichbar? Auch Bartók ließe sich anführen. Und was ist mit Weill, Dessau und Prokofieff? Warum Rihm und nicht auch Reimann, warum Hölszky und nicht auch Lachenmann, warum neben Britten nicht auch Birtwistle oder Maxwell Davis? Eine gesonderte Einleitung zu diesem mit 300 Seiten nicht gerade geringen zweiten Teil des Buches, in dem der Herausgeber seine Auswahl, seine Sicht auf die Komponistenszene begründet, wird schmerzlich vermisst.
Wollte man aus diesem Teil Einzelnes herausheben, ließe sich auf die Essays der Autoren Ulrich Schreiber (Strauss) und Hans-Klaus Jungheinrich (Henze) verweisen. Sie lesen sich mit Gewinn, weil hier die Balance aus Subjektivität und Intellektualität – im einen Fall mit stärkerer Betonung am Werk, im anderen an der Person – jene keineswegs kritiklose Nähe und Intimität herstellt, die uns in Kenntnis setzt ohne uns mit Zitatcollagen abzuschrecken oder mit einspruchslosen Nacherzählungen zu langweilen.
Dem mit „Entwicklungen“ überschriebenen ersten Teil des Buches stellt Herausgeber Bermbach einen eigenen Beitrag voran. Etwas geheimnistuerisch – „Über einige Aspekte des Zusammenhangs von Politik, Gesellschaft und Oper im 20. Jahrhundert“ – variiert er darin den akademischen Gemeinplatz, dass niemand und nichts der Politik entgeht.
Die eigentliche Darlegung setzt ein mit den Beiträgen von Jens Malte Fischer (Im Schatten Wagners). Fischer beleuchtet den deutschtümelnden, chauvinistischen Wagnerismus zwischen 1880 und 1930. Das Missverhältnis zwischen kulturimperialistischen Begehrlichkeiten einerseits und mangelnder künstlerischer Potenz andererseits, resultiere in vier derivate Gattungsformen: In Reckenoper, humoristisch-volkstümlicher Oper, Märchenoper, Legenden- und Erlösungsoper zeige sich das „musikdramatische Pendant zu dem literarischen Phänomen des sogenannten Professorenromans“. „Ja so warns, die alten Wagnersleut“ kommentiert der genervte Leser und springt nur allzu gern in einen faszinierenden Exkurs zum französischen Wagnerismus von Baudelaire bis Massenet.
Auch wenn die in Frankreich über die Bühne gegangene Innovation des Opernschaffens im 20. Jahrhundert im sich anschließenden Beitrag von Jürgen Schläder thematisiert wird („Gegen Wagner. Theatrale und kompositorische Innovation im Musiktheater der klassischen Avantgarde“) – grundsätzliche Folgerungen für die Entwicklungs- und Darstellungslogik des modernen Musiktheaters zieht erst der luzide Aufsatz von Sieghart Döhring („Zwischen Welttheater und Experiment. Französisches Musiktheater im 20. Jahrhundert“). Döhring stellt sich hier zunächst den letztlich unlösbaren Definitionsproblemen, die entstehen, wenn eine, im besten Sinn multikulturelle, europäische Operngeschichte als nationalstilistischer Fortsetzungsroman erzählt wird. Döhring fragt zu Recht, was denn eigentlich eine italienische, französische, deutsche et cetera Oper ausmacht.
Döhring gelangt zu einer Lösung, die mit Blick auf die Gesamtkonzeption des Buches einem methodologischen Entfesselungskunststück gleichkommt. Der Fingerzeig gilt der Bühne, in diesem Fall dem Pariser Musiktheater, das „über fast zwei Jahrhunderte das Schwungrad für den Prozess fortschreitender Internationalisierung des Musiktheaters in ganz Europa und in Übersee“ bildete. Im Pariser Musiktheater trafen sich Italiener, Deutsche und um 1900 schließlich auch Russen, hebt Döhring hervor. In dem Moment, wo der Autor die konzeptionellen Engpässe des Herausgebers überwunden hat, nimmt sein Beitrag Fahrt auf. Bezeichnenderweise gelingt es nun auch, mit Verweis auf „tänzerische Elemente“ und „epische Techniken“ bei Strawinsky, Milhaud und Poulenc die von Bermbach intendierten „Entwicklungstendenzen“ im Opernschaffen herauszuarbeiten.