Wagner-Handbuch, hg. v. Laurenz Lütteken, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart/Weimar 2012, XXX, 512 S., Abb., Notenbsp., € 69,95, ISBN 978-3-476-02428-2
Das Jubeljahr 2013, der 200. Geburtstag Richard Wagners macht es möglich, Wieland Wagners rigorosen Kommentar in die Tat umzusetzen: nämlich alle vor 1960 erschienene Wagner-Literatur getrost wegzuwerfen. Zwar haben die Veröffentlichungen der „Viererbande“ Gregor-Dellin – Bermbach – Borchmeyer – Friedrich seit den 1980er-Jahren das Wagner-Bild bereits grundlegend revidiert und neu gefasst, doch nun bringt ein Sammelband fast alle Aspekte zusammen.
Unter Federführung des Züricher Musikwissenschaftlers Laurenz Lütteken liefern 52 weitere Autorinnen und Autoren zu Leben und Werk Wagners inhaltlich aktuelle Beiträge. Die 65 Kapitel spannen dabei von einer Zeittafel, die – wie Steins „Kulturfahrplan“ – Wagners Leben mit wesentlichen Fakten der Politik-, Kunst- und Kulturgeschichte parallelisiert, den Bogen über nahezu alle Aspekte bis hin zur „Kompositorischen Wagner-Rezeption im 20. Jahrhundert“. Dazu gibt es Seitenblicke auf die Bildende Kunst, Architektur, Dirigenten oder das Pressewesen. Nur wenige Kapitel sind dabei über zehn Druckseiten lang, wodurch ein „handliches“, dem heutigen, „beschleunigten“ Leseverhalten entgegenkommendes Wagner-Buch entstanden ist, das gezielte Lektüre ermöglicht, ohne einen ganzen Wälzer durcharbeiten zu müssen. Dabei geht Kürze kaum zu Lasten von Gehalt. Die Fachsprache bleibt meist gut verständlich. Die neuere Wagner-Literatur ist verarbeitet und am Ende jedes Beitrags bibliographisch aufgeführt.
Wagners Antisemitismus wird klar benannt und dargestellt; gerade hierzu sind auch die von deutschen Urteilen deutlich unterschiedenen englischen und amerikanischen Positionen und wesentlichen Autoren eingearbeitet und aufgeführt. Erfreulich ist, dass jenseits der bekannten Bühnenwerke der „Gesamt-Künstler Wagner“ auch als Schriftsteller, Pamphletist, Dirigent, Regisseur und vor allem als Komponist vorgestellt und analysiert wird: Schöpfer von Schauspielmusiken, Liedern, Märschen, Orchester-, Klavier- und Chorwerken, dazu die Bearbeitungen und Fragmente. Geteilter Meinung können Leser über die Entscheidung sein, dass die großen Bühnenwerke, speziell auch die vier „Ring“-Teile von unterschiedlichen Autoren dargestellt werden. Das bringt – wie einst bei der Stuttgarter „Ring“-Inszenierung – reizvoll divergierende Gewichtungen, geht aber speziell bei der Tetralogie auch zu Lasten einer Gesamtschau und -interpretation. Wagners Innovationen und Einflüsse auf Bühne und Gesang, aber auch auf die Wechselbeziehung von Musik und Kultur sind untersucht.
In zwei Randbereichen bleiben noch Wünsche offen: zur Rolle Cosima Wagners ließe sich deutlich Kritischeres sagen; und bei den Werkanalysen werden leider nur sporadisch (meist am Ende) CDs und DVDs erwähnt – Kapitel dazu, was die nichtreisenden Wagner-Fans inzwischen als „klassisch“ gewordene Bühneninterpretationen bezeichnen und einordnen würden, sollten in einem Band für das 21. Jahrhundert selbstverständlich sein. Auch der Aspekt „Wagner im Film“ fehlt. Aber ansonsten: das neue zentrale Nachschlagewerk.