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Ein Totenschein für die Zwölftontechnik

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Manuel Gervink schlägt in Sachen Schönberg die Tür hinter sich zu
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Manuel Gervink: Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber-Verlag 2000, ISBN 3-921518-88-1, 399 S., 24. Abb., DM 78,–

Manuel Gervink: Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber-Verlag 2000, ISBN 3-921518-88-1, 399 S., 24. Abb., DM 78,–Wozu noch Biografien?“ fragte keck der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus in einer seiner brillanten Glossen für die „Neue Zeitschrift für Musik“ Mitte der 70er-Jahre. Die Biografik sei zu einer musikwissenschaftlich peripheren Disziplin abgesunken, lautete sein düsteres Fazit. Indes war die Produktion von Biografien über allgemeine historische Persönlichkeiten nach eher mageren vorangegangenen Jahrzehnten bereits wieder in vollem Gang. Es gebe ein „merkwürdige[s] Interesse an Biografien“, wurde in der „Zeitschrift für Kultur und Politik“ (Nr. 5, 1977) festgestellt. Golo Manns „Wallenstein“ (1971), Joachim Fests „Hitler“ (1973) oder Lothar GalIs „Bismarck. Der weiße Revolutionär“ (1980) sind nur die markantesten Beispiele jener Zeit. Die Komponisten-Biografie wurde mit Wolfgang Hildesheimers „Mozart“ (1977) und Martin Gregor-Dellins „Richard Wagner“ (1980) ebenfalls wieder in Schwung gebracht. Dahlhaus Feststellung war daher keine grame Schlussfolgerung, sondern eine Aufforderung, gesicherte Fakten mit dem eigenen Erkenntnisinteresse im hermeneutischen Zirkel in Beziehung zu setzen. Die mittlerweile wieder ziemlich in Schwung gekommene musikwissenschaftliche Biografik hat gezeigt: Der Mensch und sein künstlerisches Handeln lassen sich nicht in ihre sozialgeschichtlichen Teilaspekte restlos auflösen, wie es der Bildungsbürger Dahlhaus damals angesichts des Soziologiebooms in den reformierten deutschen Hochschulen befürchtete.

Alles andere als das Individuum bis zu seinem Verschwinden zu differenzieren hat der Kölner Musikwissenschaftler Manuel Gervink mit seiner Biografie Arnold Schönbergs (Laaber-Verlag) im Sinn, beschritt dabei eine Gratwanderung zwischen subjektivem Urteil und historischer Bedeutung des Komponisten. Nichts weniger als Schönbergs Werk „an dem Anspruch zu messen, den er selbst gestellt hat“ ist Gervinks Anliegen, so weiß es der Klappentext.

Um dahinter zu kommen gliedert Gervink Schönbergs Leben nach dessen künstlerischer Entwicklung in sechs große Kapitel. Der Anfang titelt einleuchtend mit „Schönberg und Strauß“. Strauß vermittelte dem Komponisten Stipendien und Arbeitsmöglichkeiten, beriet ihn in ästhetischen ebenso wie in Fragen des Musikbetriebs und machte Schönberg auf Maeterlincks Drama „Pelléas und Mélisande“ aufmerksam. Natürlich geht es in diesem ersten Kapitel auch um das Streichsextett „Verklärte Nacht“, dem wohl markantesten Beispiel für Schönbergs frühe Meisterschaft und satztechnischen Bezug auf Brahms und Wagner. Schon hier betont Gervink Schönbergs Ringen um den später so wichtig und zentral werdenden „musikalischen Gedanken“. Ohnehin werden Schönbergs kompositorische Anfänge ausführlich geschildert. Besonders die Zähigkeit und Widerstandskraft Schönbergs angesichts der ungeliebten Banklehre wird betont. Alexander von Zemlinsky war Schönberg indes mehr Gesprächspartner und Freund als Kompositionslehrer und wurde wenig später dessen Schwager. Ein frühes, gültiges Charakterbild des autodidaktischen Komponisten gelingt Gervink hier sehr anschaulich.

Im zentralen vierten Kapitel „Musik und Geschichte“ verhandelt Gervink sehr engagiert Schönbergs Weg zur Zwölftontechnik aus der Perspektive des Komponisten und rekonstruiert damit gleichermaßen die kompositionsgeschichtlichen, historischen wie auch persönlichen Gegebenheiten um 1920. Deren Bedingungen weiß Gervink geschickt aufeinander zu beziehen, um daraus die fast schon unzeitgemäß klingende Kategorie der Werkintention herauszuschälen. So stellt der Autor letztlich das Artefakt ins Zentrum der Betrachtung ohne jedoch die allgemeine Biografik als bloßen Zubringerdienst zu behandeln. Die bei Künstlerbiografien zunächst offene Kluft zwischen allgemeiner Entwicklung und Musikgeschichte wird vom Autor über das Bindeglied der Poetik trefflich überbrückt. So ist die Frage nach der Machart des Werks auch eine Frage nach sinnvollem menschlichen Handeln.
Dabei geht es Gervink gar nicht darum, einen anderen Schönberg zu präsentieren, als den, den man schon kennt. Schönberg ist und bleibt derjenige Komponist, der mit seiner 1911 erschienenen Harmonielehre die Dur-Moll-Tonalität theoretisch ausgemessen hat und kurz vor seinem 50. Geburtstag 1924 die Zwölftontechnik öffentlich machte, um sich in den Folgejahren an ihren Möglichkeiten wie auch Einschränkungen abzuarbeiten.

Die daraus resultierenden Formprobleme und Fragen der Ästhetik hat Adorno in seiner „Philosophie der Neuen Musik“ (Tübingen 1949) wohl als einer der ersten Theoretiker trefflich behandelt, Schönberg darin als den am Versöhnungsgedanken im Kunstwerk gescheiterten und darum für das 20. Jahrhundert um so „wahreren“ Komponisten dargestellt.

Schönberg ein Scheitern am eigenen Anspruch nachzuweisen hat indes Gervink im Sinn und handelt sich damit den Ruch des Ressentiments gegen die Moderne ein, was ob seiner klugen Reflexionen vollkommen unnötig gewesen wäre. In seinen flüssig zu lesenden Werkbetrachtungen kommt er immer wieder auf Schönbergs Ringen um die Einheitlichkeit des musikalischen Gedankens zurück, den er zum Schlüsselbegriff für das Verständnis von Schönbergs Musik zu Recht erhebt. Als wichtigstes Beispiel für den Wunsch nach einer ebenso ästhetischen wie satztechnischen Übereinstimmung dient ihm das um 1920 entstandene Oratorium „Die Jakobsleiter“. Biblischer wie kompositionstechnischer Bezug äußert sich hier bereits im Titel. Am sprachlich gar nicht restlos auflösbaren Begriff des musikalischen Gedankens beschreibt Gervink sehr ausführlich die wohl spannendste und bedeutendste Phase in Schönbergs Komponieren, nämlich den Übergang von der freien Tonalität in die Zwölftonmusik, wofür die „Jakobsleiter“ letztlich steht. „Die Kategorie des musikalischen Gedankens ist die Vermittlungsinstanz zwischen den kaum vereinbar erscheinenden Merkmalen von Zwölftontechnik und musikalischer Komposition“ (S. 254), resümiert Gervink und stellt damit Schönbergs Ewigkeitsästhetik vom Kopf auf die Füße. Die klang beim Komponisten seinerzeit so: „Das Werkzeug selber mag außer Gebrauch kommen, aber der Gedanke dahinter kann niemals veralten.“

Dann wetzt Gervink die Messer, wenn er über folgenden Satz Schönbergs nachsinnt: „Die Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, erwuchs aus einer Notwendigkeit“. Dem widerspricht der Wissenschaftler Gervink vehement und es verfestigt sich ab da der Eindruck, dass sich der Autor letztlich auf den Beweis dieses Widerspruchs versteift. Der Übergang von der freien Tonalität zur gebundenen Zwölftontechnik sei durchaus nicht notwendig gewesen, um den musikalischen Gedanken zu ermöglichen, meint Gervink. Und an anderer Stelle heißt es: „Schönbergs Übergang von der erweiterten Tonalität zur Atonalität und weiter von der Atonalität zur Zwölftontechnik waren weder geschichtliche noch satztechnische Notwendigkeiten, [...] sie waren vielmehr jeweils ein willkürlicher künstlerischer Akt.“ (S. 259) Damit wäre immerhin der Kreis vom menschlichen Handeln zur Ästhetik wieder geschlossen und man fragt sich, woher Gervinks Groll rührt. Denn dagegen, dass auch künstlerische Entscheidungen vom Menschen gemacht werden, welche Zwänge vom Material ausgehen mögen oder wie stark einer Inspirationsästhetik nachgehangen wird, kann eigentlich niemand etwas haben.

Gervink jedoch deutet mit dem Begriff „Willkür“ das makabre Fazit seines Schönberg-Buchs hier bereits sehr deutlich an. Am Ende nämlich schreibt er der Zwölftontechnik den Totenschein aus, noch bevor sie erprobt werden konnte. Als „totgeborenes Kind“ (S. 351) wird die Zwölftontechnik abgetan. Gervink meint damit, dass das zur Norm erhobene Regelwerk kompositorisch kein Entwicklungspotenzial bereit gehalten habe: Daran sei Schönberg gescheitert. Gerade aber die formalen und satztechnischen Probleme der Zwölftontechnik waren es, die neue Wege zeigten und – mit Verlaub – so etwas wie musikalischen Fortschritt möglich machten, ganz egal ob der Komponist seinen Anspruch einlösen konnte oder nicht, und ganz egal, ob von geschichtlicher Notwendigkeit gesprochen werden sollte oder nicht. Hier fehlen dem Autoren plötzlich Distanz und Übersicht. Statt einem Ausblick ins Offene werden Mauern errichtet. Aus Schönbergs Perspektive hat es tatsächlich „einer sein müssen“, wie er selbst seine ungeliebte Rolle als Zwölftöner definierte. Am unbestreitbar geschichtsträchtigen Punkt fast schon vollzogener Chromatisierung der Tonsprache ging er durch die freie Tonalität (leider verwendet Gervink das Paradoxon „Atonalität“) hindurch und schuf ein neues Bezugssystem, um kompositorisch verbindlich zu bleiben – eigentlich ein sehr konservatives Trachten.

Gervink aber rennt nach doch ziemlich engagiertem und dezidiertem Nachspüren von Schönbergs oft widersprüchlichem Leben und Werk bereits offene Türen ein, schlägt sie hinter sich zu. Mag es auch noch so rhetorisch zum Zwecke der Diskussionsanregung gemeint sein: Die drastische Fundamentalkritik wirft auf seine oft erhellenden Überlegungen rückwirkend einen Schatten.

Mögen den Autor Schönbergs zahllos irgendwohin gekritzelte Überheblichkeiten während langer Archivséancen gewurmt haben und mögen diese sich vor ihm zum unausstehlichen Schreckgespenst summiert haben: Einen großen Teil der Musik des 20. Jahrhunderts mitsamt eines ihrer Protagonisten dem Missverständnis zu überlassen und gewissermaßen als Geschichtsirrtum hinzustellen, wirft die Frage auf: Wozu diese Biografie? Soviel ist gewiss: „Schönberg est mort“. (Pierre Boulez)

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