„Enseigner librement la recherche en train de se faire“ (Forschung in ihrer Entstehung zu lehren) – das ist das Motto des in Paris ansässigen Collège de France, jener einzigartigen französischen Wissenschaftsinstitution, die sich seit 1530 natur- und geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung widmet. Dem Publikum sollen weniger Ergebnisse präsentiert als vielmehr Einblicke in Denkprozesse gewährt werden.
Die Devise des „en train de se faire“ macht sich auch der französische Komponist Pascal Dusapin zu eigen. 2009 veröffentlichte er unter dem Titel „Une musique en train de se faire“ die Texte einer Vortragsreihe, die er 2007 am Collége de France als Inhaber des Lehrstuhls für „Création artistique“ gehalten hatte, wobei Dusapin das Bild des „im Entstehen“ nicht nur auf die Art der Präsentation anwendet, sondern auf die Ästhetik seiner Musik selbst. Auch die betrachtet er als nicht wirklich abgeschlossen. Zwar werden die Werke beendet, doch nicht in dem Sinne, dass sie zum Ziel kommen. Ihrem Wesen nach bleiben sie im Werden, sozusagen durchsichtig für andere Möglichkeiten und Optionen.
Jetzt sind die Texte im Schott-Verlag auf deutsch unter dem Titel „Eine Musik im Werden“ erschienen, übersetzt von Ulrike Kolb. Eröffnet wird das Buch, nach einem lesenswerten Vorwort von Thomas Meyer, mit einem Präludium, das Dusapin anlässlich der französischen Erstausgabe verfasste. Und man hat den Eindruck, dass dem Komponisten angesichts der Drucklegung die Sorge umtreibt, seine Ausführungen im Collège de France könnten als bequemer Zugang zu seiner Musik (miss)verstanden werden. „Das ist das Wahre an der Musik. Sie ist unnennbar“, schreibt er allen Textgläubigen ins Stammbuch, „was sich über Musik sagen lässt, ist nicht die Musik.“ Das schwebt nun als Präambel über den weiteren Überlegungen, die nichtsdestotrotz einen faszinierenden Einblick in das Denken eines der meistgespielten Komponisten Frankreichs erlauben.
Breiten Raum in der Eröffnungsvorlesung nehmen Gedanken über die Zeit, das Hören und die Erinnerung ein. „Musik leuchtet auf und erlischt“, sagt Dusapin, „doch kommt ihr Echo naturgemäß immer zu spät. Musik, das ist die unablässige Trauer um den Augenblick.“ Er zitiert Roland Barthes, der einmal meinte, Musik sei das, was niemals wiederkehrt. „Musik hören“, nun wieder Dusapin, „ist wie eine Drohung. Die Drohung, es sei ‚schon wieder vorbei‘“. Immer wieder variiert Dusapin den Grundgedanken, dass Musik nichts Endgültiges, kein Objekt ist. Stattdessen gehe es darum, Vorhersagbares zu vermeiden, Erwartungen zu durchkreuzen, indem man Umwege geht und „unerwartete Konfigurationen“ findet. Grundlegende Anregungen, bekennt Dusapin, gab ihm „Mille Plateaux“ des Autorenduos Deleuze/Guattari und das darin beschriebene Bild des „Rhizoms“. „Das Rhizom verbindet einen beliebigen Punkt mit einem beliebigen anderen“, heißt es darin, und Dusapin erlebte dadurch eine nie geahnte Freiheit: „Auf einmal sollte es meiner Fantasie erlaubt sein, Kräfte zu entfalten, die in fast alle Richtungen hin agieren konnten und die sich nicht mehr darum zu scheren brauchten, den musikalischen Diskurs einem Beweiskatalog anzupassen.“ Dusapin ruft zahlreiche Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher auf – etwa Federico Fellini oder David Lynch –, die einer ähnlichen Ästhetik folgen.
Neben diesen ausgesprochen anregenden, grundsätzlichen Betrachtungen, die Dusapin als Erbe einer typisch französischen, vitalistischen Ästhetik zeigen, vermittelt das Buch aber auch sehr viele konkrete Einblicke in seine Komponistenwerkstatt. In der gibt es nicht viel mehr als Papier, Bleistift, Radiergummi, ein Lineal und das innere Ohr, auf das Dusapin sehr viel Wert legt. Fast schon didaktisch erläutert er, wie er zwei beliebige Töne variiert und damit ein Universum an Möglichkeiten schafft. Mit „Ipso“ für Soloklarinette belegt er sein Faible für Volkslieder als Inspirationsquelle und zeigt, wie man eine Melodie „axonometrisch“ verdoppelt, man lernt etwas über „Ränder“ und „Krümmungen“ und über die sieben Klavieretüden, die von den sieben „elementaren Katastrophen“ in der Morphogenese von René Thoms angeregt wurden, alles angereichert durch Partiturbeispiele und graphische Darstellungen. Weitere Stichworte: der Körper, die Tristesse, Fragmente, Brösel, Parzellen, Umleiten und Ausschneiden, Falten, Fractus. Das letzte Drittel des Buches ist den sechs Opern bis einschließlich „Passion“ aus dem Jahre 2008 vorbehalten, Werke sehr unterschiedlicher Machart, von dem beinah klassischen „Roméo et Juliette“ bis zum Licht- und Raumprojekt „To be sung“ nach Texten von Gertrude Stein. Dusapin gewährt auch hier sehr persönliche, erhellende Einblicke in seine Schaffensweise.
- Pascal Dusapin: Eine Musik im Werden, hrsg. v. Thomas Meyer, aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Kolb Edition Neue Zeitschrift für Musik, Schott, Mainz 2017, 160 S., € 24,90, ISBN 978-3-7957-1171-9
Dusapins Vorlesungen sind weiterhin auf der Website des Collège de France abzurufen.
www.college-de-france.fr/site/pascal-dusapin/index.htm#content.htm (letzter Aufruf: 19. April 2018).