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Vladimir Jankélévitch: Die Musik und das Unaussprechliche. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, mit einem Nachwort von Andreas Vejvar
Vladimir Jankélévitch: Die Musik und das Unaussprechliche. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, mit einem Nachwort von Andreas Vejvar
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Eine Art von Schweigen

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Vladimir Jankélévitchs Essays zur Musik
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„Entzückende Doppelsinnigkeit! Reizendes und enttäuschendes Trugbild eines Augenblicks! Wie alles, was gefährdet, köstlich, unumkehrbar ist“ – es gibt sie, die „doppelsinnige Qualität“ von Musik. Sie fügt zusammen, was sich eigentlich ausschließt – und wird damit für jeden Hörer zu etwas Besonderem.

Das zumindest behauptet der Philosoph Vladimir Jankélévitch. Seine Schriften über Musik stammen aus den frühen 1960er-Jahren. Jetzt, mehr als fünfeinhalb Jahrzehnte später, liegen diese Texte erstmals vollständig in deutscher Sprache vor. Bislang war lediglich ein rund 20-seitiger Auszug zugänglich.

Die russisch-jüdische Familie Jankélévitch siedelte gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Frankreich über und wurde dort heimisch. Der Vater, ein Mediziner, übersetzte Schelling und Hegel ins Französische, sein Sohn Vladimir wurde Philosoph. Bereits 1929 hatte Jankélévitch sein ers­tes Musikbuch herausgebracht: ein Werk über Franz Liszt. Es folgten unter anderem Schriften über Fauré, Ravel und Debussy. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte er Konzertprogramme für Radio Toulouse-Pyrenées zusammen und lehrte als Literaturwissenschaftler in Lille. Es war ein Intellektuellen-Leben, bis Jankélévitch mit knapp 82 Jahren im Juni 1985 in Paris gestorben ist.

Sein Buch „Die Musik und das Unaussprechliche“ regt an, provoziert, verstört und vergnügt. Wenn Jankélévitch über die Vereinbarkeit von Gegensätzen spricht, über Dinge, die einander im Grunde ausschließen, so zeigt sich darin, was Musik überhaupt zu leisten vermag. Damit diese Be­obachtungen und Thesen jedoch nicht im luftleeren Raum hängen bleiben, führt er eine Reihe von Beispielen an, unter anderem das sechste Nocturne von Gabriel Fauré: „Forte con sordina“ schreibt der Komponist, also Forte bei gleichzeitigem Einsatz des Dämpfungspedals. „Wozu soll man laut spielen, wenn man das Dämpfungspedal einsetzen muss? Und wenn sich das Forte durchsetzt, wozu soll man es dann dämpfen? Aus dem Widerstreit zwischen der behinderten Kraft und dem Dämpfer, der sie zurückdrängt, ergibt sich in den ersten Takten des 6. Nocturne das Mysterium der beherrschten Kraft.“ So wie Sprache an ihre Grenzen stößt, erreicht auch Musik ihre Grenzen, sie verlangt vom Interpreten etwas Unmögliches – und entlässt ihn damit ins Reich seiner eigenen Kreativität. Jankélévitch möchte zeigen, dass ein musikalischer Text Aussagen enthält, die sich mit klar zuzuordnenden Begriffen und Definitionen nicht übersetzen lassen. Es handelt sich um eine Form von Begriffs-losigkeit, die sich für den Hörer allerdings als Geschenk erweist.

Denn Musik ist für ihn kein „zweckbestimmtes Ausdrucksmittel“, von daher erlaubt sie eine uneingeschränkte Vielzahl von Deutungen: „ein und dieselbe Musik verweist auf unendlich viele mögliche Texte“ – und damit unendlich viele Interpretationen. „Tatsächlich sind die unausdrückbaren Nuancen der Stimmung, die Seelenzustände und Gefühle beim künstlerischen Schaffen ebenso unzählbar wie die Kompositionen selbst, die sie hervorbringen können.“ Die geistige Nähe zu den Dekonstruktivisten rund um Jacques Derrida ist unübersehbar.

Das führt zurück zu der Frage, die Jankélévitch schon am Anfang seines Buches stellt: Was ist eigentlich Musik? „Zum einen ist die Musik zugleich ausdrucksvoll und ausdruckslos, ernsthaft und leichtfertig, tiefgründig und oberflächlich; sie hat einen Sinn und hat keinen Sinn.“ Jankélévitch ist klug genug, um nicht erklären zu wollen, was nicht erklärbar ist. Er ist in gewisser Weise Phänomenologe; daher verwendet er gern Begriffe wie „Zauber“ („charme“) oder „Beinahe-Nichts“ („presque-rien“) – Worte, die andeuten, dass es ihm nicht nur um eine analytische Beschreibung von Musik geht, sondern zugleich um ihre ästhetische Einordnung und Wirksamkeit. Die von Jankélévitch angeführten Belege beziehen sich oft auf französische Musik, aber er führt auch russische und tschechische Werke als Beispiele an. Umgekehrt aber heißt das: Um die Musik aus dem deutschsprachigen Raum schlägt er auffällig einen Bogen.

Mit einem langen Kapitel über Stille und Schweigen endet dieses tiefsinnige, berührende, nachdenklich machende Buch. Musik erwächst aus der Stille und führt am Ende, wie er etwa am Beispiel von Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ aufzeigt, in die Stille zurück. Musik braucht Stille. Aber Musik ist keine Leere, sondern eine Art von Schweigen – und damit eine besondere Form von Erfüllung. Beobachtungen wie diese zeigen, dass Jankélévitchs Gedanken im Grunde zeitlos sind und daher ist diese Übersetzung, wenn auch sehr viel verspätet, eine Bereicherung. Gleiches gilt für das fundierte Nachwort von Andreas Vejvar.

  • Vladimir Jankélévitch: Die Musik und das Unaussprechliche. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, mit einem Nachwort von Andreas Vejvar, Suhrkamp, Berlin 2016, 268 S., € 29,00, ISBN: 978-3-518-58692-1
     

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