Hier wird nicht lang gefackelt, und sofort ist klar, wo es langgehen soll. So heißt es im allerersten Satz eines als Geleitwort getarnten Gutachtens: „Die Oper ist eine Institution.“ Der Sargnagel sitzt. „Addio del passato“, und das ganze Genre, eine über vierhundertjährige Kunst mit unzähligen opera wird, weil als schwindsüchtig, defizitär und überhaupt überlebt befunden, zu Grabe getragen. Das Werk wird hinabgestoßen, und es steht auf: das Handwerk, die Praxis, eben das Musiktheater. So, zugegeben sehr verkürzt, Dorothea Lübbe in ihrer, an Cage angelehnt mit „Europeras“ betitelten Hildesheimer Dissertation, die einen historischen wie aktuellen Systemvergleich von Deutschland und Frankreich liefern will und zugleich mit Fallbeispielen Perspektiven auf künstlerische Innovation und Kulturpolitik entwirft. Und Letzteres verheißt nichts anderes, als dass es auch um Budgets gehen und Verteilungskämpfe geben soll.
Nun steht außerhalb jeglicher Diskussion, dass die Neue Musik, das moderne Musiktheater den standardisierten Repertoirebetrieb in Oper und Konzert insgesamt erneuert und in Überfülle aktuelle Bilder-, Formen- und Erfahrungswelten erschlossen haben. Und dass die Oper selbstredend eine komplexe institutionelle Geschichte hat, breitete unlängst Michael Walter eindrucksvoll aus. Nur fragt man sich, ob eine ausschließlich managementorientierte Kulturwissenschaft wie hier methodisch und begrifflich in der Lage ist, im vielschichtigen Wechselverhältnis von Altem und Neuem, Institutionen und Freier Szene tiefere Einsichten zu generieren. Erst einmal alle Bestände und Inhalte abzuräumen, um dann Gebäude, Strukturen, Prozesse und Geldflüsse zu betrachten, erinnert doch sehr an die „Evaluation“ genannten grobschlächtigen Betriebsprüfungen von Kulturbetrieben aus den 1990er Jahren. Mit viel Wohlwollen kann man das Methode nennen, welche zwar für so etwas wie Kennzahlen und Betreuungsschlüssel reichen mag, die jedoch die ästhetischen, sinnlichen, kognitiven und somit sozialen Qualitäten von Oper wie Musiktheater aber nicht annähernd zu beschreiben vermag – egal, ob die von Massenets Manon oder die von Stockhausens Michael. Das ureigene Kapital bleibt so unberücksichtigt, auch bei den gewählten deutsch-französischen Fallbeispielen: den Häusern in Paris, Montreuil, Halle und Wuppertal sowie den Freien Gruppen Hauen und Stechen, OperaLab und La Cage.
Dabei bemüht sich Lübbe um methodisches Werkzeug, vor allem um zwei Instrumente zwecks Beobachtung und Analyse, als da wären die Begriffe von Zeitgenossenschaft und Innovation. Letzterer, wirtschaftswissenschaftlichen Ursprungs und vom österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter aus zweiter Hand übernommen, verliert seine rein quantifizierende Bestimmung von Fortschritt – neuer, schneller, billiger – im Zuge der Untersuchung und angesichts des Gegenstands leider nicht, was man in Zeiten von Optimierung, Diesel-Gate, Tracking und ähnlich fortschrittlichen Unternehmungen ja durchaus hätte kritisch befragen können. Und ist der eine so zu schmal, gerät der andere nachgerade schmalbrüstig. Giorgio Agambens, des opaken italienischen Philosophen, Begriff der Zeitgenossenschaft muss für einen Anspruch auf bloßen Gegenwartsbezug herhalten, wobei die für ihn zentrale Kategorie des Unzeitgemäßen stracks fürs zeitgenössische Musiktheater der Freien Szene reklamiert wird. Kann man noch darüber streiten, ob Letzteres im Zuge steigender Projektförderungen und fortschreitender Deregulierung nicht nur von Kulturinstitutionen tatsächlich der Fall ist und ob nicht solcherlei Unzeitgemäßes sehr wohl à la mode ist, so ist unbestritten, dass Agambens Forderung nach Anachronie hier jegliche Kraft verliert, sein Aufruf nämlich, hier und jetzt Kraft und Kreativität zu schöpfen aus jeglichem vorhandenen Vergangenen, dem fernsten wie dem jüngsten. Gegenwart nämlich, weil sie nicht Halt macht und vergeht, ist eben nur als vergangene erfahrbar, Historie, tempi passati. So nicht nur Agamben, sondern etwa Hölderlin und Nietzsche, Mussorgsky und Bernd Alois Zimmermann, welchen die blinden Flecken des strahlenden Heute als Abgründe der Zeit entgegenstarrten.
In der Tat ist es angesichts der zunehmenden Volatilität der musikalischen Praxis aller Mühen und Lieben wert, über Oper und zeitgenössisches Musiktheater nachzudenken, über institutionelle Trägheit, die sich dem Fraß der Zeit widersetzt, und die freie Beschleunigung desselben. Jedoch so managementkonform und kulturpolitikaffin lässt sich weder das alte Genre noch die gegenwärtige Praxis als Kunst wirklich begründen, so mit Innovation als Modellpolitik und Zeitgenossenschaft als Hipness. Es steht im öffentlichen Kulturbetrieb zu viel auf dem Spiel, als dass man es sich versagen sollte, gedanklich intensiver in die Breite und Tiefe zu gehen. Und vielleicht sind Vorboten und Sinnbilder des aufziehenden Verlustes bereits die Fehler in dem Buch, durchgewunkene und unlektorierte Falschaussagen zum Gegenstand: zum Beispiel, dass die opéra comique eine dem Adel gewidmete war (S. 39), oder dass im Deutschland der vielen Hofopern die Opernhäuser bis 1875 „weitestgehend als Privattheater getragen“ wurden (S. 68) und sie heute der „Länderhoheit“ unterstehen (S. 69). Bei etwas, was abzuschaffen ist, macht das wohl nichts mehr aus …
- Dorothea Lübbe: Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich. Perspektiven auf künstlerische Innovation und Kulturpolitik, transcript, Bielefeld 2019, 282 S., Abb., € 39,99, ISBN: 978-3-8376-4632-0