Roel Bentz van den Berg: Die ganze Geschichte. Magische Momente der Popkultur, edition suhrkamp
Roel Bentz van den Berg: Die ganze Geschichte. Magische Momente der Popkultur, edition suhrkamp Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts, lautete einst das intellektuelle Leitmotiv des großen kosmopolitischen Pianisten Claudio Arrau. Die bedeutendsten unter den schriftstellernden Pop-Aficionados, die nie nur Archivare, sondern immer auch Poeten waren, haben sich von Anfang an diese Devise zu Eigen gemacht. Was sie hörten, öffnete und erklärte ihnen eine ganze Welt. Greil Marcus zum Beispiel entdeckte in den Songs, die ihn begeisterten, das andere Amerika, den Underground des Lebens, der von den Strukturen der Macht und den fatalen Entscheidungen der Einzelnen versehrt wurde. Seine Bücher waren immer Soziologie und Vision, Dokument und Predigt.Der europäische Greil Marcus ist Roel Bentz van den Berg: nicht so verbissen-phänomenologisch und so verquer-analytisch vielleicht, dafür assoziativer. Wo Greil Marcus vor allem Sammler und Spurensucher ist, ein Detektiv der Gegen-Kultur, der Belege für seinen großen Prozess aufeinander häuft, da ist Roel Bentz eher einer, der in fremde Kleider schlüpft, Masken und Rollen ausprobiert.
Pop als Befreiung: Jedes Riff öffnet die Pforten der Wahrnehmung, jeder Song ist der Beweis, dass es auch ganz anders geht. Bei Roel Bentz wird Pop zum Labor, in dem Probe-Existenzen durchgespielt werden. Jeder neue Sänger entwirft eine mögliche Welt, jeder neue Song erweitert die eigene Biografie. Das alte Diktum des jungen Marx, dass der wirkliche Reichtum im Reichtum der wirklichen Beziehungen bestehe, variiert Roel Bentz: je mehr Lieder einer kennt, je mehr Geschichten einer gelesen und je mehr Filme er gesehen hat, desto mehr weiß er von sich und der Welt, desto mehr Register kann er auch in seinem eigenen Dasein ziehen.
Nach seinem ersten Buch „Die Luftgitarre“ hätte man noch meinen können, dass Roel Bentz ein, wenn auch eigenwilliger, Exeget der Pop-History ist. Spätestens mit seinem neuen, „Die unsichtbare Faust“, wird deutlich, dass für ihn die Musik nur ein Teil der Popkultur ist, deren „magische Momente“ er nicht nur untersucht, sondern auch weiterfantasiert. Neben Elvis, in den er schon als Kind hineinschlüpfte, weil er glaubte, dass sich so die Welt verwandeln ließe, rückt jetzt Jack Kerouac, der große Befreier, der vom „Unterwegssein“ kündet und Nacht für Nacht, „angeschlossen an den großen himmlischen Dynamo“, auf seiner Schreibmaschine Kilometer um Kilometer zurücklegt und so, „Jetzt! Jetzt! Jetzt!“ ausrufend, ein Amerika entwirft, aus dem Geschäftssinn und Machtgier verschwunden sind, in dem nur die einzigartigen Bebop- und Rausch- und Liebes-Augenblicke und die Zen-Reflexe zählen. Roel Bentz ist aber kein Träumer, Schönredner oder Utopist. Er berichtet auch vom dunklen, bösen Ende Kerouacs, vom Reich des Schnapses, der Ressentiments und des jähen Todes.
Und seine besondere Vorliebe gilt den düsteren Sängern und Poeten: Dem „men in black“ Johnny Cash, der Schwarz tragen wollte, „solange es auf der Welt noch Unrecht gibt“, als könne er so das große Elend in sich aufsaugen; Cash, dem Unzeitgemäßen, der glaubt, er sei 200 Jahre zu früh oder zu spät geboren; Cash, der in seinem Mitleiden so klar und unerbittlich bleibt, dass selbst die schwersten Jungs in Folsom oder San Quentin unwillkürlich den Atem anhalten, wenn er von und zu ihnen singt. Oder dem, wie er sagt, und er meint es als Kompliment, „vollständig nackten gottverdammten Schauspieler“ Harvey Keitel, dem „Mean Street Messiahs“, wie er ihn nennt, der so weit weg ist von aller bloßen „actor’s studio“-Virtuosität, dass es bestürzend und erleuchtend sein kann, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Oder dem vollkommen desillusionierten Neuerfinder der Short Story, Raymond Carver, dessen Geschichten „jeden Moment eine peinliche Wendung nehmen“ können und dessen Lektüre zu einem panischen Wiedererkennen führen kann. Oder Bruce Springsteen, der für Roel Bentz im Land der neurotischen „winner“ ein Boss bestenfalls der „looser“ ist; einer, dessen Lieder identisch sind „mit der grundlegenden Stimmung der amerikanischen Seele“ und des Rock ’n’ Roll, sofern er mehr ist als nur billige Unterhaltung und leere Teenager-Versprechen, nämlich: „ein Zustand permanenter existentieller Unruhe, die sich aus der Vermutung speist, irgendwann einmal sei etwas ganz Fürchterliches geschehen, ohne dass jemand exakt wüsste, was.“ Es geht um ein geheimes Verbrechen oder ein Trauma, kurz: um „die amerikanische Version der Erbsünde“. Aber obwohl sich Roel Bentz in den dunkelsten Winkeln der Existenz auskennt und durchaus auch gerne aufhält, ist seine Prosa alles andere als trostlos; in den besten Momenten (und von denen gibt es viele!) sogar beglückend. Das liegt vielleicht daran, dass er die erstaunlichsten Metaphern in ein unheimliches Medium verwandelt: man erkennt, vollkommen ungeschönt, den Status quo – und bekommt doch zumindest eine Ahnung vom „anderen Zustand“.