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Eine vielgesichtige Künstlerpersönlichkeit

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Reprints und Neuerscheinungen zum Bach-Jahr 2000 · Durchgesehen von Linda Maria Koldau
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Zwei Seiten fehlen zur 1.000-Seiten-Grenze – damit erweist sich das Bach-Handbuch als umfangreichste Einzelpublikation des Bach-Gedenkjahrs 2000. Eigentlich vereint es mehrere Bücher in einem Band: Konrad Küsters 450-seitiger Teil zu Bachs Vokalmusik (Kantaten, Passionen und lateinische Kirchenmusik, Motetten und Lieder) besitzt Buch-Format, nicht nur in seinem Ausmaß, sondern auch in der umfassenden Darstellung, die von den allgemeinen Grundlagen der Kantatendichtung und Kantatenkomposition im 18. Jahrundert bis zur detaillierten Betrachtung der einzelnen Werke reicht.

Bach-Handbuch, hrsg. von Konrad Küster, Kassel u.a. 1999, Bärenreiter-Verlag/Verlag J.B. Metzler, 158 Mark. Zwei Seiten fehlen zur 1.000-Seiten-Grenze – damit erweist sich das Bach-Handbuch als umfangreichste Einzelpublikation des Bach-Gedenkjahrs 2000. Eigentlich vereint es mehrere Bücher in einem Band: Konrad Küsters 450-seitiger Teil zu Bachs Vokalmusik (Kantaten, Passionen und lateinische Kirchenmusik, Motetten und Lieder) besitzt Buch-Format, nicht nur in seinem Ausmaß, sondern auch in der umfassenden Darstellung, die von den allgemeinen Grundlagen der Kantatendichtung und Kantatenkomposition im 18. Jahrundert bis zur detaillierten Betrachtung der einzelnen Werke reicht. Dieses Herangehen entspricht dem Konzept des Handbuchs, das Küster als Herausgeber in der Einleitung postuliert: Einerseits bieten die zwölf Autoren einen zusammenhängenden Text, der die „vielgesichtige“ Künstlerpersönlichkeit Bachs und sein Gesamtschaffen abdeckt und auch Bachs sozialen und religiösen Kontext sowie die Bach-Rezeption und die Aufführungspraxis berücksichtigt (einleitender Teil mit Aufsätzen von Ulrich Siegele, Martin Petzoldt, Hans-Joachim Hinrichsen und Martin Elste). Andererseits tragen Werkübersichten, das alphabetische Verzeichnis der geistlichen Kantaten und Choralbearbeitungen, mehrere Register, eine Zeittafel und schließlich auch die durchweg klare Strukturierung der Einzelkapitel zu einer gelungenen Synthese von Lesebuch, Werkführer und Nachschlagewerk bei.

Die Autoren führen jeweils in die Problematik ihres Bereichs ein, stellen den aktuellen Forschungsstand dar, bieten eigene, im Rahmen dieses Handbuchs praktikable Lösungen (etwa Werner Breigs Untergliederung der freien Orgelwerke in zehn Werkgruppen) oder machen auf Fragen aufmerksam, die weiterhin offen bleiben und somit Anregung zu weiterer Forschungsarbeit geben. Während sich Michael Kube in seinem Beitrag zu den choralgebundenen Orgelwerken fast gänzlich auf die reine Werkbesprechung beschränkt, überzeugt Friedrich Sprondels mehrschichtiger Erklärungsansatz, warum Bach sich in seinen späten Leipziger Jahren derart auf eine hochartifizielle kontrapunktische Kunst konzentriert und somit sein „rätselhaftes Spätwerk“ geschaffen hat.

Der nach der Vokalmusik umfassendste Teil behandelt die Klaviermusik, mit sechs Kapiteln zur Klaviermusik der Bach-Zeit, zu verschiedenen Gattungen, zum Wohltemperierten Klavier und zu „pädagogischen“ Werken (Siegbert Rampe, Peter Schleuning, Michael Kube, Emil Platen und Konrad Küster). Der Orgelmusik sind zwei weitere Kapitel gewidmet (Michael Kube, Werner Breig), ebenso der Kammermusik und den Orchesterwerken (Hans Eppstein und Konrad Küster). In den meisten Fällen werden die Einzelwerke dabei in einen umfassenden Kontext von Bachs biografischer Situation bis hin zu Rezeption und Aufführungspraxis gestellt.

Dass die Verzeichnisse der Sekundärliteratur gelegentliche Lücken aufweisen, konnte nicht ausbleiben. Dem Handbuch tut dies insgesamt jedoch keinen Abbruch: Wer sich umfassend über Johann Sebastian Bach, sein Leben, sein Schaffen und dessen Interpretation informieren möchte, der ist mit dem Bach-Handbuch bestens beraten.

Marc Vignal: Die Bach-Söhne, Laaber 1999, Laaber-Verlag, 78 Mark.

Standen sie zu ihrer Lebenszeit häufig im Schatten ihres Vaters, so profitieren Bachs Söhne zumindest heute, im Bach-Gedenkjahr, von der publizistischen Aufmerksamkeit. Mit Marc Vignals Buch ist erstmals eine umfassende Studie erschienen, welche die vier Bach-Söhne Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friedrich und Johann Christian gemeinschaftlich behandelt. Vignals Ziel ist es, „die Söhne Bachs in ihrer Zeit erstehen zu lassen“ (S. 9); dazu zitiert er zahlreiche Original-Dokumente sowie die Ergebnisse der jüngeren Forschung und widmet sich außerdem ausführlich dem gesellschaftlichen Umfeld der vier Musiker, das von der Welt der protestantischen Kirchenmusik in Mitteldeutschland über das Hofleben im Berlin des 18. Jahrhunderts bis hin zum Opernbetrieb in London und Paris reicht.

Ungeschickt wirkt die Aufteilung der Kapitel. Beginnt Vignal in chronologischer Reihenfolge beim Ältesten, Wilhelm Friedemann Bach, so bricht er dessen biografische Schilderung mit der Entlassung aus dem Organistenamt an der Hallenser Marienkirche (1764) ab, geht zunächst zu detaillierten Werkbesprechungen, dann aber zu drei Kapiteln zu den jüngeren Bach-Söhnen über. Erst nach 210 Seiten erfährt der Leser, wie es mit Wilhelm Friedemann weiterging und welche Werke er in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens noch komponierte. Ähnliche Aufsplitterungen finden sich bei Carl Philipp Emanuel und Johann Christoph Friedrich. Dieser Anordnung mag zwar ein grob chronologischer Plan zugrunde liegen; ein solches Konzept wird aber durch die fortlaufende Schilderung der unterschiedlichen Lebensstationen jedes Komponisten verschleiert und schließlich gänzlich aufgehoben.

Auch der Sprachstil scheint in seinem – durch die Übersetzung aus dem Französischen verfremdeten – Plauderton etwas unglücklich. Der Bruch innerhalb jedes Kapitels (Lebensbeschreibung und Werkanalyse) wird dadurch verschärft; die Werkdarstellungen wirken insgesamt kursorisch und geben wenig Auskunft über charakteristische Stilmerkmale des jeweiligen Komponisten.

Ein dankenswertes Novum ist der Anhang mit den Werkverzeichnissen der vier Bach-Söhne und der Konkordanz der Werkverzeichnisse von Carl Philipp Emanuel (vergleichende Tabellen mit den unterschiedlichen Nummerierungen von Alfred Wotquenne und Eugene Helm, die in der Forschung beide Gültigkeit besitzen).

Marc Vignals Buch erscheint somit als unterhaltsames Lesebuch; seine Darstellung einer vielgestaltigen Epoche im Umbruch ist höchst gelungen. Die vierfache Vernetzung von Musikerbiografien und Werkdarstellungen wirkt jedoch verwirrend: Eine Anlage in vier separaten Teilen hätte vermutlich ein besseres Ergebnis erzielt.

Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Reprint der Erstausgabe Leipzig 1802, hrsg., kommentiert und mit Registern versehen von Axel Fischer, Kassel u.a. 1999, Bärenreiter-Verlag, 68 Mark.

Im Sinne unserer Jubiläumskultur hätte er eigentlich erst in zwei Jahren herauskommen dürfen: Im Jahr 2002 wäre der Reprint der ersten Bach-Monografie, Johann Nikolaus Forkels „Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“ pünktlich zum 200. Jahrestag der Erstveröffentlichung erschienen. Als „Beginn der Bach-Forschung im modernen Sinne“ (Einleitung, S. 26) gehört dieser Neudruck jedoch ebenso gut ins Bachjahr 2000. Axel Fischers kommentierte Ausgabe ist begrüßenswert, lagen doch bislang nur die ideologisch gefärbten Neuausgaben von Joseph Müller-Blattau (1925) und Walther Vetter (1966) vor.

Die ansprechende, kleinformatige Ausgabe verlockt zum Lesen, bietet dabei mit dem ausführlichen, textbegleitenden Kommentar zum terminologischen, biografischen und musikalischen Kontext sowie zu den von Forkel erwähnten Werken eine wertvolle Hilfe. Ebenso hilfreich sind die angefügten Register der Werke und Personen, die Forkel in seiner Bach-Biografie nennt.

In seiner Einleitung liefert Fischer in knapper, ebenfalls ansprechender Form die nötigen Informationen zum Autor, zu der Entstehung der Bach-Monografie sowie zu Quellen, Aufbau und Rezeption. Auf Hinweise zur Sekundärliteratur hat Fischer offenbar bewusst verzichtet – Hans-Joachim Hinrichsens umfassende Studie „Johann Nikolaus Forkel und die Anfänge der Bachforschung“ (in: Bach und die Nachwelt Bd. I, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Laaber 1997, S. 193-253) als erste und bislang einzige Untersuchung zu Forkels Bach-Darstellung hätte hier jedoch unbedingt erwähnt werden müssen. Denn aus Fischers knapper Einleitung wird nur ansatzweise ersichtlich, wie sehr Forkels Bach-Bild noch vom Gedankengut der Aufklärung geprägt ist, wie sehr er sich bemüht, eine – real nicht existierende – Kontinuität der musikalischen Tradition zu vermitteln und wie stark er mitunter in die Quellen eingreift, um ein geschlossenes Bild eines „um das Urteil der Mitwelt unbekümmerten Genies“ (Hinrichsen, S. 213) auszugestalten. Ebenso stellt sich bei Hinrichsen das aktuelle Verständnis von Forkels Bach-Biografie erheblich weiter dar als dies in Fischers Beschränkung auf die zwei prominentesten Sichtweisen der Fall ist: Mit Joseph Müller-Blattaus Umdeutung der patriotischen Züge ins Nationalistische und Walther Vetters Verdrängung des kirchenmusikalischen Amtes zugunsten der Hofkapellmeisterposition Bachs nennt Fischer lediglich zwei ideologisch geprägte Interpretationen. Zumindest angedeutet werden sollte jedoch die Vielfalt der Lesarten von Forkels Biografie, etwa Leo Schrades Unterstellung eines „romantischen“ Bach-Bildes oder Martin Zencks Fehlinterpretation von Forkels „Periodologie“ im Sinne eines periodischen Satzbaus nach Art der Wiener Klassik.

Wer darum den Neudruck von Forkels Monografie als wichtiges Zeugnis aus der Zeit unmittelbar nach Bach studieren will, sollte über Fischers hilfreichen Kommentar hinaus auf jeden Fall auch Hinrichsens breite Kontext-Studie berücksichtigen.

Johann Sebastian Bach: „Nun komm, der Heiden Heiland“. Kantate zum 1. Adventssonntag BWV 61, Faksimile der Originalpartitur mit einem Vorwort hrsg. von Peter Wollny (= Meisterwerke der Musik im Faksimile 3), Laaber 1999, Laaber-Verlag, 98 Mark.

Johann Sebastian Bach: Die Achtzehn großen Orgelchoräle BWV 651-668 und Canonische Veränderungen über „Vom Himmel Hoch“ BWV 769, Faksimile der Originalhandschrift mit einem Vorwort hrsg. von Peter Wollny (= Meisterwerke der Musik im Faksimile 5), Laaber 1999, Laaber-Verlag, ISBN 3-89007-407-X, 128 Mark.

In der Reihe „Meisterwerke der Musik im Faksimile“ des Laaber-Verlags sind nun auch zwei Faksimile-Ausgaben von Werken Johann Sebastian Bachs erschienen, die zwei sehr unterschiedliche und dennoch miteinander verbundene Schaffensphasen im wahrsten Sinne des Wortes „sichtbar“ machen: die Kantate „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 61 und die „Achtzehn großen Orgelchoräle BWV 651–668“ sowie die Canonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ BWV 769.

Die Kantate BWV 61 erntstand Ende 1714 für den Gottesdienst in der Weimarer Hofkapelle und wurde 1723 vermutlich erneut aufgeführt. Stilistische Merkmale veranlassen den Herausgeber Peter Wollny, zur – zurückhaltend, aber überzeugend formulierten – Vermutung, Bach könnte gerade in dieser Kantate aus dem Dialog mit Telemann heraus damit experimentiert haben, französische Elemente in die deutsche geistliche Musik aufzunehmen.

Die Orgelkompositionen, die in der umfangreichen Handschrift P 271 (Berlin, Staatsbibliothek) enthalten sind, lassen sich dagegen nur schwerlich datieren. Mit geradezu detektivischem Gespür zeigt Wollny anhand des verwendeten Papiers, der Handschrift, der Papierlagen, der unterschiedlichen Schriftformen Bachs und weiterer Kopisten, schließlich sogar anhand biografischer Daten des Bach-Schülers Johann Christoph Altnickol, wann und über welchen Zeitraum verschiedene Faszikel dieser wertvollen Quelle mit Orgelkompositionen entstanden sein könnten. P 271 erweist sich somit als Sammlung von Orgelwerken aus der Weimarer Zeit, die Bach über Jahrzehnte hin planvoll anlegte.

Die Überarbeitungen von einigen Kompositionen geben dabei einen wertvollen Einblick in die Kontinuität und den Wandel von Bachs Tonsprache, so dass die Sammlung eine „vollkommene Synthese“ von „jugendlicher Experimentierfreude“ und „reifer Meisterschaft“ bietet.

Das Faksimile könnte Organisten durchaus auch zum Spiel dienen: Die Werke sind klar und übersichtlich notiert (leider ist das originale Format der Handschrift nicht angegeben), und Bachs schwungvolle, aber stets ebenmäßige Schrift lässt die Agogik erahnen, mit der er selbst seine Werke gespielt haben dürfte.

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