Walther Hensel, geboren 1887 als Julius Janiczek in Mährisch-Trübau, gestorben 1956 in München, war nach heutigem Sprachgebrauch ein „Aktivist“, prägend beteiligt an Jugendbewegung und Singbewegung und Initiator des 1923 in der Nähe von Prag gegründeten Finkensteiner Bundes. Zu den Erfahrungen, aus denen seine politischen und musikalischen Überzeugungen ihre Dynamik bezogen, gehört – neben einem Kult der „Jugend“, wie er intermittierend in den letzten 200 Jahren immer wieder aufgetreten ist – wesentlich die „sudentendeutsche Grenzlandlage“ (Hensel 1923, im besprochenen Band S. 181), die sich ihm als „Grenzlandnot des mitteldeutschen Ostens“ darstellte (Erwin Wittek 1930, S. 24). „Die Befürchtung, das Deutschtum würde ‚im Kampfe mit den andern Völkern‘ unterliegen“ (S. 180), und der aus dieser Einschätzung notwendig entspringende „Grenzlandkampf“ war für Hensel, so paraphrasiert Undine Wagner den Autor, „Motivation für das Singen und […] Gradmesser künstlerischer Wertung.“ (S. 181)
Hensel suchte im „echten Volkslied“ Altes und Zukünftiges auf kulturrevolutionäre Weise zu verbinden. Indem er dem Volk die Lieder wiedergab, „die das Volk am wenigsten kennt“ (S. 188), wollte er einen „neuen Menschen“ schaffen. „Hensels Grundanliegen“ bestand darin, „durch richtiges Singen das Volk zu erneuern“ (S. 294, U. W.). Er bevorzugte Lieder mit „mystischem Gehalt“ (S. 295), in denen der Rückgriff auf das Echte-Alte und die Vision eines Neuen verschmelzen. „Am echten Liede wird das Wunder der Volksgemeinschaft Wirklichkeit; es bildet sich die ‚Singgemeinde‘ als seelische Einheit“ (Joseph Müller-Blattau über die Finkensteiner Bewegung und Walther Hensel, S. 306)
Seine Ideen von Volkslied und Volk hat Hensel in den 1920er Jahren ausgebildet und verbreitet, in Prag, in Dortmund, im anthroposophischen Stuttgart und bei zahllosen Singwochen. Das Jahr 1933 war für ihn eine „große Wende“ (S. 84) und eine Bestätigung seiner bisherigen Arbeit. Er schrieb im Folgenden Musik auf Texte des Nazi-Barden Will Vesper und arbeitete problemlos mit dem Reichsstatthalter im Sudentengau Konrad Henlein zusammen.
Die umfangreiche Monographie über Hensel, die jetzt im ConBrio Verlag erschienen ist, besteht aus zwei gesonderten Abhandlungen. Die beiden von Michael Zock (Kapitel II–III plus Prolog und Epilog) bzw. Undine Wagner (Kapitel IV bis VI) geschriebenen Teile differieren nicht nur in Diktion und Darstellungsweise, sondern auch in Erkenntnisinteresse und Methode. (Von dem dritten im Titel genannten Autor, dem verstorbenen Torsten Fuchs, der das Projekt angestoßen hat, stammen nur wenige Seiten.) Zock bemüht sich, Hensels Leben und Wirken so zu rekonstruieren, dass preiswerte Besserwisserei der Spätergeborenen ebenso vermieden wird wie trotzige Fortschreibung älterer Vertriebenen-Positionen. Seine Darstellung folgt im Wesentlichen der Chronologie und ist historisch zu nennen im Sinne der Maxime: „The past is a foreign country; they do things differently there.“ (L. P. Hartley) Wo Zock Hensels Positionen und Aktionen vor Verharmlosung und Apologie ebenso wie gegen moralisch-politische Zensurreflexe der Leser schützen will, greift er gern zum Stilmittel der offenen, unbeantwortet bleibenden Frage. Im Übrigen aber gibt er belegbaren Antworten den Vorrang vor weiterführenden Überlegungen und lässt manche Gelegenheit zur Problematisierung und Vertiefung ungenutzt. So wird das Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 lediglich erwähnt (S. 22). Die aufschlussreichen Unterschiede, die dort, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zwischen den Positionen von Gustav Wyneken, Pfarrer Traub und anderen offenbar und auch ausgetragen wurden, werden nicht thematisiert.
Undine Wagner orientiert ihre Darstellung an Hensels drei Hauptbetätigungsfeldern: seiner Beschäftigung mit dem Volkslied, seinem Wirken in Jugend- und Reformbewegung und seiner Verbindung zu kirchenmusikalischen Traditionen, die auch für seine Arbeit als Liederkomponist wichtig war. Wagner verfährt historisch im zünftig musikwissenschaftlichen Sinn. Sie kontextualisiert Hensels Interventionen, indem sie Vorgeschichte und Vorstrukturierung der drei Felder darlegt, in die er eingreift.
Durch die historische Kontextualisierung wird deutlich, dass Hensels Fixierung auf das „Edel-Volkslied“ mit „mythischem Goldglanz“ (S. 188) nicht dem state of the art des Volksliedsammelns entspricht, sondern politischen Präokkupationen entspringt. Für Hensel terminiert die Arbeit am „neuen Menschen“ im „politischen Lied“, das – „richtig gesehen und in seinem vollendeten Sinne – die höchste Kategorie eines (vielleicht erst der Zukunft vorbehaltenen und noch zu schaffenden) Volksliedes [ist].“ (Hensel, S. 193)
Die historische Betrachtung gibt auch den Blick frei auf widerstreitende Tendenzen in Hensels Konzept. Er hat die Zusammenarbeit mit Jöde geschätzt und auch davon profitiert, dass die von ihm edierten Liedersammlungen in einschlägigen Kreisen verbreitet und etwa in Handreichungen der NS-Lehrerzeitung für Handbüchereien in Schulen empfohlen wurden (S. 308 f.). Darunter aber zeichnet sich ein latenter Konflikt ab zwischen der „spontanen Protestbewegung“ der Finkensteiner, den Singwochen als „überwältigendem, nachhaltigem und die eigene Tätigkeit prägendem Erlebnis“ einerseits (S. 235) und einer institutionell organisierten Pädagogik andererseits (S. 224). Bewegung/Erlebnis gehen nicht restlos auf in Musikerziehung/Kulturpolitik und verhindern eine perfekte Verschmelzung von nationaler Politik, Musikerziehung und Vokalität der Art, wie Zoltán Kodály sie in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg an der Seite von János Kádár verwirklicht hat.
Hensels Auseinandersetzung mit Kirchenmusik führt ihn in eigenen Liedkompositionen zu modaler Relativierung von Dur und Moll, vor allem aber zu musiktheoretischen Systembildungen, die sachlich schwach begründet und für das Nachdenken über Musik unergiebig sind. Mit der (1900, nicht 1905 erschienenen) „Harmonielehre“ August Halms hat all das, entgegen der Behauptung des Autors Torsten Fuchs, nichts zu tun (S. 273). Hensel ist nicht nur politisch, sondern auch in musikalischer Hinsicht ein „Identitärer“. Funktionales, relationales Denken, das auch die „Harmonielehre“, Halms erstes veröffentlichtes Buch, prägt, ist Hensel völlig fremd. Seinem Musikverständnis fehlt die Erfahrung des Instrumentalen. Er war zeit seines Lebens eingeschlossen in die Welt des Singens.
Hensels vokale Bornierung und ihre Folgen für immanente Aspekte der Musik wie für ihre sozialen Funktionen werden leider von keinem der Autoren des Bandes bedacht. Seine faschistische Ästhetik ist Ergebnis nicht nur politischer Prämissen, sondern beruht wesentlich auch auf der Ausblendung der Möglichkeiten, die das Musikalische sich in der Instrumentalmusik erworben hat. (Clytus Gottwald hat den Zusammenhang für die Geschichte der Vokal- und Kirchenmusik im 20. Jahrhundert in vielen Publikationen nachgezeichnet.) Dass Undine Wagner ausgerechnet der Ideologie einer ganzheitlichen Direktheit und Unmittelbarkeit des Singens mit Hilfe eines Gedichts der in der ehemaligen DDR hochgeschätzten Eva Strittmatter einen Resonanzraum gibt (S. 242), berührt merkwürdig.
Der Band ist sorgfältig redigiert. Sachliche Wiederholungen und Wiederholung von Zitaten kommen vor, stören aber nicht. Ein vermeintliches Halm-Zitat auf S. 99 ist ein Zitat im Zitat und stammt von W. H. Riehl (korrekte Quellenangabe auf S. 220). Die Dokumentenanhänge sind instruktiv. Ein Register fehlt leider.
- Torsten Fuchs/Undine Wagner/Michael Zock: Der mit den Bäumen sprach. Walther Hensel – Singmeister und Linguist zwischen Tradition und Erneuerung (neue wege – nové cesti. Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts, Bd. 15), ConBrio, Regensburg 2018, 386 S., € 34,90, ISBN 978-3-940768-76-6