Jean-Jacques Dünki: Schönbergs Zeichen. Wege zur Interpretation seiner Klaviermusik (Publikationen der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, Bd. 6), hrsg. v. Matthias Schmidt, mit einem Vorwort von Rudolf Stephan, Verlag Lafite, Wien 2006, 151 S., Abb., Notenbsp., CD, € 34,00, ISBN 978-3-85151-074-4
Arnold Schönberg (1874–1951) gilt heute als Klassiker der Moderne. Seine frühen, hyperromantischen Werke, die „Gurrelieder“ oder „Verklärte Nacht“ hört man gerne und mühelos. Die Schöpfungen seiner späteren, von ihm geschaffenen Zwölftonmusik haben ihren einstigen großen Schrecken verloren. Seine Klaviermusik beispielsweise, die anfangs mit atonalen Mitteln, danach mit der neuen Reihentechnik verwirklicht wurde, führen längst nicht nur Spezialisten auf. Auch der unkundige Hörer, vor allem im Konzert, so zeigt die Erfahrung, gerät in den Bann der schönbergschen Expressivität, wenngleich der Assoziationsraum unbestimmt und rätselhaft bleiben mag und der gebotene enorme geistige und spieltechnische Aufwand zunächst nur vage zu erahnen ist.
Das neue Schönberg-Buch von Jean-Jacques Dünki „Schönbergs Zeichen. Wege der Interpretation seiner Klaviermusik“ setzt an diesem heiklen Prozess von Begreifen und Umsetzung an, in dem das exakte Lesen der Partitur im Mittelpunkt steht. Anders als in bisherigen Darstellungen, die mehr von ästhetischen Wertungen und Kompositionsanalysen ausgehen, soll hier Schönbergs Zeichensprache genau erfasst werden, damit sie angemessen erklingen kann. Der Schweizer Pianist und Komponist Dünki gilt als ausgesprochener Schönberg-Experte. Er kommt aus der Praxis und schrieb sein Buch für Unterricht und Konzert. Dünki studierte in Europa und den USA. 30 Jahre beschäftigte er sich mit Schönbergs Klavierwerk. Seit 1984 leitet er eine Klavierklasse an der Musik-Akademie Basel und unterrichtet weltweit, vornehmlich das Klavierwerk Schönbergs. Über 300 Rundfunksendungen, 22 CDs, darunter Erstveröffentlichungen von Alban Berg, Max Reger, Franz Schreker, Anton Webern und Alexander von Zemlinsky sprechen für seinen künstlerischen Radius.
Zur Debatte kommen die Klavierwerke der mittleren Kompositionsphase mit freitonalen Werken (1908–1921) und der folgenden Periode mit zwölftönigen Grundreihen (1921–1951): Drei Klavierstücke op. 11 (1909), Sechs kleine Klavierstücke op. 19 (1911), Fünf Klavierstücke op. 23 (1920–1923), die neunsätzige Suite op. 25 (1925), Klavierstück op. 33a, Klavierstück op. 33b (1928/1929) und das erste größere Solo mit Kadenz aus dem langsamen Satz des Klavierkonzerts (1942). Nicht berücksichtigt sind die frühen, von Schönberg selbst nicht veröffentlichten Drei Klavierstücke (1894) in der Nachfolge von Brahms, dann die Fragmente zu 17 Klavierstücken (vor 1900–1933) und die Werke für Klavier vierhändig und für zwei Klaviere.
Es handelt sich um meist kleine, kunstvolle Gebilde, das kürzeste dreißig Sekunden, das längste maximal zehn Minuten dauernd, je nach Spielart insgesamt eine knappe Stunde. Der romantische, sich quasi selbst entwickelnde Spielfluss und die große pianistische Geste fehlen. Dafür steht ein abstrakter Satz auf kleinem Raum, polyphon gesetzt und oft schwer auszuführen bei einem durchaus ätherischen und ausdrucksstarken Tonfall. Dünki versucht, konsequent den „Gehalt“ der Werke aus der Notation mit ihren Vortragszeichen und Spielanweisungen herauszukristallisieren. Der Hauptabschnitt seiner Ausführungen gilt den Vortragselementen mit ihren Verknüpfungen und Abhängigkeiten: Ton und Tonhöhe, Rhythmus, Takt und Metrum, Tempo und Agogik, Dynamik und Betonungen, Phrasierung und Artikulation, Haupt- und Nebenstimmen, Klang und Klangfarbe einschließlich der Pedalangaben, Ausdruckszeichen, Tempo, Metronomangaben und Fingersätze. Ein unentbehrlicher Praxisabschnitt bietet zu fast allen Werken ausführliche Spielvorschläge für Schönberg-Neulinge aber auch für Fortgeschrittene zum Überdenken ihrer Einstudierungen. Voraussetzung sind dafür, neben einer erfahrenen Pianistik die Grundlagen der musikalischen Analyse, des Kontrapunkts und der Formenlehre. Musikbeispiele, Faksimiles und Tabellen veranschaulichen den Sachverhalt. Schönbergs Schriften und die Zeugnisse seiner pianistischen Exegeten wie Eduard Steuermann, Else C. Kraus, Arthur Schnabel, Walter Gieseking, Leonard Stein werden eingebracht, ebenso eine kleine Interpretationsgeschichte des Klavierwerks. Zu Steuermann fühlte sich Schönberg besonders hingezogen.
Ein einleitendes Kapitel bringt Schönbergs musikalische Vorgänger Bach, Mozart, Mahler und seine Zeitgenossen Reger, Zemlinsky und sogar Gershwin in Relation. Die Beschäftigung mit anderen Werken Schönbergs zum besseren Begreifen des Klavierwerks leuchtet ein, darunter die Fünf Orchesterstücke op. 16, von Schönberg selbst für Kammerensemble und für zwei Klaviere zu acht Händen bearbeitet, das zweite Streichquartett op. 10 und der Liederzyklus „Das Buch der hängenden Gärten“ op. 15 mit der Nähe zu den Drei Klavierstücken op. 11. Jean-Jacques Dünki gelingt eine eindringliche, klar formulierte Darlegung, die auf die praktische Arbeit am Klavier hinzielt. Das Buch liefert darüber hinaus einen anregenden, reichen Lesestoff, der überraschende historische und musikalische Zusammenhänge erschließt. Die große Fülle der Informationen, bei weit gefächerter Gliederung, erfordert ein wiederholtes Lesen und Studieren, was ja nur zum Nutzen sein kann. Ein Register wäre dann sicherlich für andere Ausgaben recht dienlich. Die beigefügte CD mit besagten Werken gestaltet Dünki auf Schönbergs Ibach-Flügel von 1912 interessant und überzeugend individuell. Sie kann jedem Vergleich standhalten.
Alles in allem ermöglicht diese Neuerscheinung einen guten Einstieg in die kleine und doch so große, revolutionäre Klavierwelt Schönbergs und fördert damit auch das Verständnis der so genannten Zweiten Wiener Schule um Schönberg mit Alban Berg und Anton Webern einschließlich ihrer fulminanten Auswirkung auf die musikgeschichtliche Entwicklung.