Wolfgang Rüdiger präsentiert in dem vorliegenden 135 Seiten umfassenden Band 20 Improvisationsvorschläge, die nicht nur ungeheuer vielseitig und breit gefächert sind, sondern darüber hinaus mit sehr umfangreichem Zusatzmaterial aufwarten.
Die einzelnen Vorschläge sind klar und übersichtlich gegliedert und man erhält zusammen mit der Spielanweisung zunächst Basisinformationen zum benötigten Material, zu Instrumenten, zu den Mitwirkenden (Alter, Gruppengröße); die Vorkenntnisse werden noch einmal unterschieden in allgemein musikalische und spezifisch instrumentale Erfahrungen, denn einige der Vorschläge setzen beispielsweise Notenkenntnisse voraus, für andere braucht man zwar grundlegende instrumentale Spielfertigkeiten, aber keine weiteren musikalischen Vorkenntnisse. Weiter erfährt man etwas über den Probenaufwand, die Aufführungsdauer und sogar die Einsatzmöglichkeiten (z.B. im Klassenunterricht, Workshop oder im professionellen Konzert). Für die vertiefende und weiterführende Beschäftigung erhält man Variationsmöglichkeiten (z.B. durch Reduktion oder Erweiterung des Tonmaterials, Tonartwechsel oder durch die Wahl anderer Materialien) und für die Zusammenstellung einer individuellen Reihe sogar die Aufzählung der im Buch befindlichen verwandten Modelle. Neben den Basisinformationen erhält man Hintergrundinformationen, die, angepasst an das jeweilige Improvisationsmodell, mal stärker historisch informativ (z.B. zu Dick Higgins und der Fluxus-Bewegung der 60er-Jahre) oder gattungsspezifisch einordnend (z.B. zu grafischer Notation) ausfallen oder, die persönlichen Erfahrungen des Autors aus der eigenen Praxis beschreiben. Auch auf die didaktisch-methodische Seite wird bei jedem der Vorschläge unter der Rubrik „Einbindung in Konzert und Unterricht“ eingegangen. Immer wieder lässt Rüdiger Beobachtungen und konkrete Tipps aus der Improvisationspraxis einfließen – wie bereitet man unerfahrene Musiker auf die ungewohnte Situation vor, wie führt man ein Gespräch über die Ergebnisse oder, wann verzichtet man lieber auf das darüber reden.
Alles ist fundiert durchdacht und bietet die Möglichkeit, immer weiter zu gehen – sei es über das Erfinden und Weiterspinnen neuer Varianten, Konzepte und Spielformen (von denen auch einige Ausarbeitungen vorgestellt sind, wie beispielsweise die Komposition eines Studenten, die aus der Teilnahme an einem Improvisationsworkshop bei Rüdiger entstand) – oder sei es mithilfe der umfangreichen Literaturhinweise, die sowohl zu jedem einzelnen der 20 Musiziervorschläge gegeben werden, als auch mehrere Seiten weiterführender Literatur zu Ensemble und Improvisation im Anhang.
Reizvoll ist das breite Spektrum der vorgestellten Modelle: Rüdiger bleibt nie einseitig einer bestimmten ästhetischen Ausrichtung verpflichtet, Fluxus und Stockhausen kommen ebenso selbstverständlich vor wie Blues und Pachelbel-Kanon. Als Ausgangspunkt oder Grundlage dienen ihm zum einen Kompositionen, wie beispielsweise ein Ausschnitt aus Edgar Varèses 1923 komponiertem Werk „Octandre“: Hier wurden einzelne, besonders ansprechende Klangphänomene extrahiert und in Spielanweisungen übersetzt, die Varèses Kompositionsweise über das eigene Musizieren im Ensemble sinnlich erfahrbar machen, ohne dass man dazu das natürlich höchst komplexe und instrumental anspruchsvolle Original spielen muss. Zum anderen greift Rüdiger offene Konzepte verschiedener Komponisten auf und zeigt, wie man diese erarbeiten und gemeinsam umsetzen kann, dabei aber auch zu eigenen musikalischen Erfindungen kommt. Sogar ein „Klassiker“ der musikalischen Grafik wie Earle Browns „December 1952“ findet sich hier wieder. Im Gegensatz zu vielen Schulbüchern, in denen man diesem berühmten Werk mit meist etwas halbherzig daherkommenden Vorschlägen zur musikalischen Umsetzung begegnet, bekommt man hier eine Fülle von Möglichkeiten, Materialien und Beispielen, um sich auf verschiedenste Art und Weise produktiv damit auseinanderzusetzen.
In seiner ausführlichen Einleitung entwirft Wolfgang Rüdiger einen sehr weit gehenden, geradezu weltumspannenden Improvisationsbegriff: „Improvisation als Modell freien Miteinanders, als Sinnbild und Schule des Lebens“ und ja, man nimmt es dem Autor nach der Lektüre des Buches ab, denn man spürt deutlich, dass hier jemand am Werk war, der sehr viel Praxiserfahrung mitbringt, der selbst umsetzt, „lebt“, was er hier präsentiert. Das macht Mut zur eigenen Umsetzung und motiviert auch Neulinge, sich an musikalische Improvisation im Ensemble heranzuwagen. „Es kann stets auch anders sein“ – die hiermit postulierte Offenheit ist Programm, mit dem Ziel, Musiker/-innen zu eigener schöpferischer Gestaltung anzuregen und ihre Neugier auf das Unbekannte, Neue zu wecken.
Fazit: Ein sehr gelungenes Buch – vielseitig, informativ und anregend. Sowohl Neueinsteiger als auch erfahrene Improvisatoren können hier fündig werden – unbedingt empfehlenswert!
Wolfgang Rüdiger: Ensemble & Improvisation: 20 Musiziervorschläge für Laien und Profis von Jung bis Alt, ConBrio, Regensburg, 2015, 136 Seiten, Abb., Noten, € 19,90, ISBN 978-3-940768-54-4